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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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die Knie und sprach die Worte nach, die auch der sterbende Franziskus gebetet hatte: »O Herr Jesus, erfülle mich so tief wie möglich mit deinen Leiden! Und lasse mich in meinem Herzen so tief wie möglich die maßlose Liebe spüren, in der du brennst, Sohn Gottes, um derentwillen du so viel Schmerz für uns armselige Sünder erlitten hast.«
    Dann stand er auf. Ein Leuchten ging über sein Gesicht. »Ich bin bereit, meine Brüder!«
     
    Bruno de Berck fuhr auf. In seinem Traum hatte sich eine riesige Natter um den Hals Christi gelegt, mit glühenden Augen und einer langen, dreigeteilten Zunge.
    »Ich bin der Herr der Welt, ich, Satan!«
    Sein Körper brannte von innen und von außen. Jede Bewegung tauchte ihn in ein Meer von Schmerzen. Selbst der Kontakt mit dem Laken war unerträglich. Den linken Arm konnte er fast nicht mehr bewegen, so groß war die Beule, die darunter in der Achsel saß, bläulich schwarz, bis zum Bersten voll. Seine Rechte tastete nach dem Messer, das er auf Reisen als Schutz gegen Räuber immer mit sich führte. Die Hand zitterte. Er musste lange warten, bis sie einigermaßen ruhig wurde.
    Schweiß rann über seine Augen. Er hatte Angst, schreckliche Angst sogar, aber was konnte schlimmer sein, als so dem sicheren Tod entgegenzutreiben?
    »Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist!«
    Mit letzter Kraft stach er zu.
    Es war die Höllenfahrt! Blut und Eiter spritzten heraus. Ein widerlicher Gestank entströmte der Wunde.
    Bruno de Berck fiel in tiefe Ohnmacht.
     
    Johannes strauchelte zum dritten Mal unter dem Kreuz. Seine Schultern waren wund von der ungewohnten Last, vor seinen Augen drehte sich alles. Als sie ihn von dem Holz befreiten und bis auf ein Lendentuch auszogen, versagte ihm die Stimme.
    Noch standen fünf weitere Stationen aus, bis endlich vollendet war, was Jesus erlitten hatte. Vierzehn Männer sind wir damals gewesen, dachte er, als wir das Kreuz durch die Straßen von Köln getragen. Damals war Karfreitag, jetzt ist die Geburt des Herrn nicht mehr weit. Vergangenheit und Gegenwart wirbelten durcheinander. Vierzehn Sünder. Einer für jede Passionsstufe.
    Und jetzt trage ich alles allein! Gott, nimm mich auf in deinen Schoß!
    Sie legten ihn auf das Kreuz, breiteten seine Arme aus, schlugen die Füße übereinander. Dann durchdrangen die Nägel die Handwurzelknochen, den Spann.
    Er brüllte auf, ganz wach auf einmal, voller Entsetzen. Voller Pein. Die Schmerzen waren unbarmherzig. Kein Mensch konnte das ertragen - keiner!
    Alle Kräfte waren nötig, um das Kreuz nach oben zu ziehen. Der Grund dafür war längst ausgehoben. Dicke Seile hielten es an den Seiten.
    Sein Schreien wollte nicht enden.
    Justin begann zu weinen. »Wir sollten ihn abnehmen«, rief er verzweifelt, »solange er noch am Leben ist. Das kann Gott nicht gewollt haben! Nicht so! Nicht von unserer Hand!«
    Doch keiner der Jünger wagte sich zu rühren.
     
    Da war es wieder, dieses Jaulen, dieses Brüllen, dieses Heulen, das nichts Menschliches hatte! Drang in sein Fieber, in die Agonie, die ihn immer wieder an den Rand eines dunklen Abgrunds zog.
    In seinem Kloster ging etwas Schreckliches vor! Er musste ihm Einhalt gebieten - aber wie?
    Sein Puls raste. Er hatte das Gefühl, in seinem Körper sei kein Tropfen Flüssigkeit mehr. Irgendjemand musste ihm eine Schale mit Wasser in die Zelle gestellt haben. Seine Kraft reichte gerade noch aus, um sie umzustoßen. Ein paar Spritzer benetzten seinen Mund. Er schluckte gierig.
    Der linke Arm brannte. Aber er ließ sich bewegen. Und er lebte noch immer.
     
    Johannes starb, als das erste Dämmerlicht die Nacht vertrieb. Und keiner, der Zeuge dieses Todes gewesen war, würde ihn jemals vergessen. Jetzt war es Justin, der darauf bestand, dass man ihm auch noch die Seitenwunde beibrachte.
    »Er hat es so gewünscht. Wir sollten seinem Willen nachkommen, nach allem, was heute hier geschehen ist.«
    Aber er wandte sich ab, als ein Mutigerer als er zustach.
    »Wo ist das Tuch?«, fragte er später.
    Schon vor Tagen hatten sie es aus der Krypta geholt und inzwischen sorgsam versteckt.
    Sie waren gerade dabei, die Seile zu lösen, um den Leichnam abzunehmen und anschließend darin einzuschlagen, als eine bekannte Stimme sie unterbrach.
    »Was treibt ihr hier - um Christi willen?«
    Mit offenen Mündern starrten sie den Eindringling an. Es war Bruno de Berck, in ein Laken gewickelt, der offenbar gerade von seinem Totenbett auferstanden war.
     
    Bela van der Hülst
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