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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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noch sie!«
     
    Nachdem sie das Färberhaus endgültig zugenagelt und alle Leichen seiner einstigen Bewohner mit dem Karren zum Massengrab außerhalb der Stadt abtransportiert hatten, spürte Regina zum ersten Mal das verräterische Brennen in der Brust.
    Das ist es also, dachte sie beinahe verwundert. Der Anfang vom Ende, vor dem wir alle solche Angst haben. Ich werde sterben, so wie Hilla gestorben ist, wie Barbra und Agnes, ihre Mädchen, wie Hermann Windeck, ihr Mann, der keinen seiner Träume verwirklichen konnte. Wie Sophie, meine geliebte, schöne Schwester, und ihr winziger Säugling. Wie meine unglückliche Mutter Thekla. Und wie Niklas Brant, das Scheusal, der seinen Tod wirklich verdient hat.
    Äußerlich blieb sie ganz ruhig, betete einen Rosenkranz, trank ein paar Schlucke von dem Pestwurzlikör, nahm einige der Theriakkugeln ein, fühlte sich selber mehrmals den Puls. Am Abend legte sie sich ins Bett, wissend, dass sie es wohl nicht mehr würde verlassen können. Sie ließ nicht nach Bruno de Berck schicken. Ihren Frieden mit ihm und den mit Gott hatte sie längst gemacht. Sogar der Hass auf die blonde Bettlerin war verschwunden. Aber es stand noch etwas Wichtiges aus, das sie immer wieder auf später verschoben hatte. Jetzt war die letzte Gelegenheit dazu.
    Als der Morgen heraufdämmerte, bat sie die erschrockenen Schwestern, die fest geglaubt hatten, sie sei unverwundbar, Anna zu ihr zu rufen. Trotz ihrer Schwäche, trotz des Fiebers, das sie mehr und mehr ausdörrte, erkannte sie sofort, dass ihre Nichte geweint hatte.
    »Flora? Unsere kleine Flora?«
    Anna nickte unter Tränen. »Heute Nacht. Auf einmal ging es ganz schnell. Plötzlich sah sie so still aus und so friedlich. Und dann, dann war alles schon vorüber.«
    »Ich weiß, wie schlimm es für dich ist.« Jedes Wort schien eine immense Anstrengung, zu der sie sich zwingen musste. »Wie sehr du leidest. Aber du musst weiterleben. Wenn schon nicht für dich, dann wenigstens für das Kind, das du trägst.« Regina bäumte sich in Krämpfen auf. »Verlasse die Stadt, Anna. Bringt euch in Sicherheit - schnell! Damit nicht auch noch ihr …«
    »Woher weißt du?«, flüsterte Anna.
    »Weil ich zu sehen gelernt habe.« Sie rutschte unruhig im Bett hin und her. »Nein, komm bloß nicht näher! Sonst fällt es mir noch schwerer zu reden. Du musst wissen, ich lege diese Beichte nicht zum ersten Mal ab. Aber dir bin ich sie schuldig. Du musst sie hören, bevor ich gehe. Damit du verstehst, wie ich manchmal handeln musste.«
    In rasselnden, abgehackten Sätzen offenbarte sie Anna ihr schreckliches Geheimnis. Niklas Brant und seine groben Hände. Die Nächte voller Angst. Die entsetzliche Gewissheit, vom eigenen Vater geschwängert worden zu sein. Die Geburt. Theklas Selbstmord im Rhein. Und Guntram, der lebende Beweis der Schande …
    »Jetzt weißt du, weshalb ich ihn nie berühren konnte. Warum ich in deinen Augen so hart und grausam zu ihm war. Welche Schuld habe ich auf mich geladen! Er ist ein Ungeheuer geworden, das weiß ich. Und ich, ich habe alles dazu beigetragen!«
    »Sei still!« Anna war bei ihr, befeuchtete die rissigen Lippen. Reginas Gesicht hatte bereits alles Fleisch verloren; die Haut war straff über die Knochen gespannt. »Du konntest nicht anders! Du warst ein junges Mädchen, fast noch ein Kind. Wie sehr musst du gelitten haben!« Tränen fielen auf das Betttuch. »Warum nur habe ich nichts davon gewusst? Ich hätte dir helfen können, dir beistehen!«
    »Sein Schicksal trägt jeder allein«, kam es dumpf zurück. »Ich hadere nicht länger mit meinem Geschick. Ich habe Schreckliches gesehen, aber auch stille, gute Jahre erleben dürfen. Und du, meine Anna, warst mir auch so die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe.«
    Regina öffnete die Lippen. Ein Schwall dunklen Blutes ergoss sich über Annas Arm. Ohne eine Spur von Ekel beugte sie sich ganz nah über die Sterbende, widerstand der Versuchung, ihre Lippen auf die plötzlich ledrige Haut zu drücken.
    »Mach es besser als ich«, meinte sie zu hören. »Dein eigenes Leben … das Kind … die Liebe …«
    Dann sank ihr Kopf zur Seite, und es war still im Raum.
    Er war gerade erst in die Schwalbengasse eingebogen, da entdeckte er schon an der Mauer des Beginenkonvents das riesige Rußkreuz, das alles verriet. Keuchend rannte er weiter. Außer sich vor Schmerz, Wut und Enttäuschung hämmerte er so lange mit Fäusten und Füßen gegen die zugenagelte Pforte, bis durch eine
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