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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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Taverne hinterherstarrten und dabei anzügliche Zoten rissen? Die versuchten, sie im Vorbeigehen zu begrapschen und auf den Schoß zu ziehen? Abwehrend schüttelte er den Kopf.
    Anna Windeck war seine Freundin seit frühen Kindestagen, und sie wurde erst im kommenden Monat zwölf. Fast auf den Tag ein Jahr jünger als er mit seinen beinahe dreizehn. Die Feier seiner Bar Mizwa, die ihn zum Vollmitglied der jüdischen Gemeinde machen würde, war längst angesetzt. Tante Rechas umfangreiche Vorbereitungen strebten allmählich ihrem Höhepunkt zu; Jakub sprach nur noch davon, wie er ihm künftig bei allen Feierlichkeiten in der erst jüngst frisch gedeckten Synagoge zur Hand gehen könne. Alles schien so fest bestimmt, so unausweichlich. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Esra beinahe so etwas wie Furcht davor, das zu erreichen, wonach er sich lange gesehnt hatte: erwachsen zu werden.
    »Ich bin spät, ich weiß, aber ich dachte schon, diese schreckliche Lateinschule hört nie mehr auf!«
    Johannes war gekommen, der dritte im Bunde. Nun waren sie komplett. Der Klang seiner Stimme hatte Anna geweckt, und sie setzte sich gerade auf. Ihre Augen begannen zu strahlen, und die schmerzhafte Enge ins Esras Kehle wuchs weiter zu. Verzweifelt rang er nach Luft. So sieht sie mich nie an, dachte er. Niemals! Immer nur ihn. Den anderen. Und er scheint sich nicht einmal besonders viel daraus zu machen.
    »Du hast ja lauter Tinte im Gesicht«, sagte Anna lächelnd. »Versuchst du sie zu trinken, anstatt mit ihr zu schreiben?«
    Johannes rieb seine Wange nachlässig mit Spucke und wischte anschließend die schwärzlichen Spuren an seinen Beinlingen ab, nicht aus billigem Barchent geschneidert, wie Esras und Annas Kleidung, sondern aus hellem Strickstoff gewirkt. Die enge, kurze Bux, die er darüber trug, war aus feinstem Leinen.
    »Gar keine schlechte Idee! Wenn du wüsstest, wie langweilig es ist, Stunde über Stunde stillzusitzen! Bruder Matthias und erst recht der alte Pater Raffael bestehen nun mal darauf, die Lektionen so lange durchzugehen, bis sie auch der Dümmste in der Klasse verstanden hat - und das kann dauern, sag ich euch! Dazu dieses grässliche Rechnen auf den Zeilen, das mich schon bis in den Schlaf verfolgt. Zum Teufel mit diesem Buchstabensalat! Ich wünschte, ich müsste niemals mehr im Leben dorthin!«
    Er zog eine Grimasse; sein schmaler Kopf mit dem dunkelblonden, schulterlangen Haar flog übermütig nach hinten. Mit seinen sensiblen Zügen, den Augen, hellbraun wie frisch gebrautes Bier, und der zarten Haut hatten ihn früher viele irrtümlich für ein Mädchen gehalten, aber nachdem er im letzten Jahr so in die Höhe geschossen war, konnte man sich unschwer vorstellen, was für ein Mann er bald schon sein würde. Leider war seine Stimme noch hell und knabenhaft und ließ die tiefen Töne vermissen, mit denen Esra schon ab und an prahlen konnte. Er warf dem Freund einen raschen Blick zu. Manchmal fürchtete er, er würde niemals dessen Stärke und körperliche Geschicklichkeit erreichen.
    »Und ich wünschte, wir könnten tauschen, Johannes!«, sagte Anna belegt. »Liebend gern würde ich statt deiner in der Schule sitzen, um Latein zu studieren und das Rechnen von Grund auf zu lernen. Aber das bleibt wohl nur ein Traum. Hilla hat mir seit Neuestem sogar verboten, dass ich weiterhin von Tante Regina unterrichtet werde.«
    »Auch sonntags?«, warf Esra ein. Er wusste, wie viel Anna an den Stunden bei der frommen Begine lag. Sie war fast so wissbegierig wie seine kleine Schwester Lea, die nicht genug von allem Geschriebenen bekommen konnte.
    Sie nickte. »Gerade sonntags. Nach dem Kirchgang haben die Leute Durst und kehren umso lieber bei uns ein. Außerdem ist sie fest davon überzeugt, dass Lesen den Charakter verdirbt - vor allem den weiblichen!« Jetzt waren die dunklen Brauen tief über die Augen gezogen. Sie traf Hillas Mimik und Gestik bis ins Kleinste. »›Das Weib steigt höher in der Tugend, aber es fällt auch tiefer in der Sünde - amen!‹ Und das ausgerechnet von der Maulwürfin, die selber halb blind ist und zu blöd, um auch nur einen Buchstaben vom anderen zu unterscheiden!«
    »Ich denke, wir sollten endlich anfangen«, wechselte Johannes abrupt das Thema. »Oder habt ihr es euch inzwischen etwa anders überlegt?«
    »Ich bin dabei«, sagte Anna schnell und war froh, dass ihre Stimme nicht zitterte. Sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl an diesem schwülen, viel zu heißen Morgen. Etwas
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