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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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Platz jedenfalls, dem niemand so einfach wieder entkam. Sanfte, kenntnisreiche Fürsorge für ein krankes Kind vermutete sie dort jedenfalls nicht.
    Plötzlich wusste sie, wohin. Ihre Miene erhellte sich. Es gab keinen Ort in Köln, zu dem es sie mehr hinzog.
    »Komm mit«, sagte sie zu Ursula. »Ich bringe dich an einen schönen Platz, der hell, freundlich und warm ist. Dort bekommst du zu essen, und ein Bett zum Gesundwerden findet sich sicherlich auch.«
    »Meinst du etwa den Himmel?«, fragte die Kleine. »Aber ich bin doch noch gar nicht tot.«
    Anna musste lachen. »In dieses Paradies kann man auch lebendig kommen«, sagte sie. »Vorausgesetzt, man hat ein bisschen Glück und kennt die Pförtnerin.«
     
    Bruno de Berck hörte die Mönche zur Vesper das »Agnus Dei« singen und schlug das schmale schweinslederne Buch auf, an dessen Inhalt sein Schützling Rufus Cronen in letzter Zeit gearbeitet hatte. Seine Finger strichen beinahe zärtlich über die kunstvollen Minuskeln, die trotz ihrer Anmut und guten Lesbarkeit sein ungestümes Temperament verrieten. Die Initialen hatte er mit drolligen Tiergesichtern geschmückt, mit Hase, Ziege, Luchs und Reh, und mit flatternden Vögeln der unterschiedlichsten Arten umgeben, jenen federleichten Kreaturen, die Franziskus ganz besonders lieb gewesen waren. Außer ihnen beiden wusste niemand etwas von diesem Experiment, das gefährlich werden konnte, gelangte es in falsche Hände. Es handelte sich um eine deutsche Übersetzung des Sonnengesangs, und sie stammte von keinem anderen als ihm.
     
    »Höchster, mächtigster, guter Herr,
dein ist das Lob, die Herrlichkeit und Ehre
und jeglicher Segen.
dir allein, Höchster, gebühren sie,
und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.«
     
    Bruno hatte die erste Strophe halblaut gelesen. Nun lehnte er sich in seinem harten Stuhl zurück und begann sich zu entspannen. Es gab kein schöneres Gebet auf dieser seltsamen Welt voller Pein, Not und Ungemach. Und sicherlich keines, das die Seele besser tröstete und läuterte, besonders, wenn es nicht in distanziertem Latein rezitiert wurde, sondern in der Muttersprache, in der man dachte und träumte. Er fröstelte, aber hungrig war er schon lange nicht mehr. Seitdem er sich in diesem dunklen, regnerischen Spätherbst entschlossen hatte, von Allerheiligen bis zum Geburtstag des Herrn zu fasten, hatten sich zahlreiche äußerliche und innere Veränderungen vollzogen. Sein Körper war nicht länger schwer und träge, sondern er war dabei, seine frühere Straffheit und Beweglichkeit zurückzugewinnen. Ähnliches galt für seinen Geist. Eine heitere Genügsamkeit wohnte in ihm, die es ihm leicht machte, wie schon lange nicht mehr, sich besonders intensiv auf die täglichen Pflichten zu konzentrieren.
    Je einfacher, desto besser. Deshalb war ihm die körperliche Arbeit in der Zimmerei im Augenblick am allerliebsten. Er empfand es nicht als einen Akt der Buße, sondern als Gnade, sich so lange beim Hämmern und Sägen anzustrengen, bis der Schweiß in Strömen floss und alle Muskeln brannten. Erst jetzt fühlte er sich wieder bereit, die seligmachende Botschaft des heiligen Franziskus in alle Lande zu tragen: als fremder Pilger, dessen Kloster die Welt war, als demütiger Knecht des Heilands, der der Dame Armut aus reinem Herzen diente.
     
    »Gelobet seist du, mein Herr,
mit allen deinen Geschöpfen,
besonders dem Herrn Bruder Sonne,
der uns den Tag schenkt und durch den du uns leuchtest.
Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz:
von dir, Höchster, ein Sinnbild.«
     
    Wie wenig man brauchte, um das Lob von Gottes Schöpfung zu singen! Zwei kastanienbraune Kutten, eine mit Kapuze, eine ohne, Beinkleider, einen rauen Strick um den Leib, offene Sandalen. In diesem Herbst hatte er bislang sogar auf die kratzigen Socken verzichtet. Kein Haus, kein Grundstück, keine Goldmünze. Nicht einmal Macht. Er fühlte sich um vieles leichter, seitdem er nicht Generalminister des Ordens war, sondern wieder einfacher Mönch, Bruder unter Brüdern, zum selbstlosen Liebesdienst berufen.
    Die flach gedeckte, querschifflose Saalkirche, von zwei Dutzend Kerzen erhellt, besaß eine wunderbare Akustik und ließ die Männerstimmen klar und ergreifend klingen. Auch hier das Prinzip der Armut: reine Funktion, nichts, was als Pomp oder Prunk ausgelegt werden konnte. Und überall die Präsenz Gottes, der der Menschheit seinen eigenen Sohn gesandt hatte.
    Er spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen, und
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