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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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Holz schleppte, Kati, die Nachbarin, die soeben ihr achtes Kind trug. Sophie, Annas Mutter, war daran zugrunde gegangen. Nicht einmal Regina war zu Hillas wütender Genugtuung davon ausgenommen, die Feine, Gebildete, die mit anderen Frauen im Beginenhaus in der Glockengasse lebte und sich in ihren Augen ganz ungerechtfertigt für etwas Besseres hielt.
    Sie blutete nach Frauenart, und jeder musste es sehen. Jeder! Wie sollte sie so durch die Gassen kommen?
    Ihre Kehle brannte. Was wollte sie eigentlich hier? Die beiden Freunde dort drüben waren Männer, jedenfalls beinahe - und begriffen nichts von dem, was in ihr vorging. Noch nie im Leben hatte sie sich so schutzlos gefühlt.
    Dumpfes Schweigen. Schließlich griff Esra nach dem wollenen Umschlagtuch, das er gerade für seine Tante Recha bei der alten Weberin in der Rheinvorstadt abgeholt hatte, und hielt es ihr hin.
    »Gib es mir einfach später zurück«, sagte er leise. »Wann immer du magst.«
    Anna schlang es sich stumm um die Hüften. Dann rannte sie aus der Kapelle hinaus in das helle Sonnenlicht.
    Esra und Johannes folgten ihr betreten. Der eine starrte hartnäckig zu Boden, der andere schien in weiter Ferne etwas zu fixieren. Aber auch ohne ein Wort zu verlieren, wusste jeder von ihnen, dass eben etwas geschehen war, was sich niemals mehr ungeschehen machen lassen würde. Die Zeit der Kindheit war nach diesem Mittag in der verlassenen Kapelle für alle drei unwiederbringlich vorbei.

ERSTES BUCH

    Der Fluss

Eins
    Schwerer, feuchter Schnee fiel auf die Gassen der Stadt Köln und färbte den unebenen Boden mit den tiefen Spurrillen dunkel. Und der große Fluss stieg. Unaufhaltsam.
    Anna Windeck beschleunigte ihren Schritt. Sie war unterwegs zum Kotzmarkt, der billigen Fleischbank an der Westseite des Heumarktes, um dort Speck und Innereien einzukaufen. Schwierig, auf der schlammigen Unterlage einigermaßen sicher voranzukommen, eine Mischung aus Sand, grobem Kies und Schmutz, selbst mit den festen, aber natürlich viel zu großen Stiefeln, die Guntram ihr nach langem Eigengebrauch neulich vererbt hatte. Sie versuchte, so gut es ging, den dünnen, unregelmäßigen Rinnsalen auszuweichen, in denen Fäkalien wie trübe Bäche an den Hausmauern entlangflossen, und konzentrierte sich darauf, sich von den Rändern der Gasse fernzuhalten. Die Kraxe auf ihrem Rücken scheuerte. Ständig wechselte sie den Korb von Arm zu Arm und versuchte, das rutschende Tuch um Brust und Kopf festzuhalten, das sich immer mehr mit Nässe vollsog. Die wenigen, die ihr entgegenkamen oder sie überholten, schienen in Eile.
    Bislang schwiegen die schrillen Glocken noch, die bei Überschwemmungen geläutet wurden. Aber einige Keller waren bereits überflutet, und die ersten derer, die in der niedrig gelegenen Rheinvorstadt wohnten, hatten längst damit angefangen, Möbel und Hausrat in die oberen Stockwerke zu schleppen. Wasser konnte ein hölzernes Gebäude ebenso mühelos vernichten wie Feuer, das wusste jeder, der hier lebte. In feuchten, warmen Wintern wie diesem kam es immer wieder zu Überschwemmungen, die großen Schaden anrichteten und schon mehr als einmal zahlreiche Menschenleben gekostet hatten.
    Gerade noch rechtzeitig wich sie einer dicken Bache aus, die im Morast nach Essensresten wühlte. Diese Rennsäue, wie sie im Volk genannt wurden, hatten sich in den letzten Jahren zu einem schier unlösbaren Problem entwickelt. Offiziell war ihre Haltung verboten und allein dem hiesigen Minoritenorden erlaubt, aber keiner schien sich darum zu scheren. Überall schnüffelten diese freilaufenden Tiere herum: in den stinkenden Haufen vor den Häusern, den Abtrittgruben in den schmalen Höfen, die trotz aller Vorschriften des Magistrats oft zu nah am Nachbarhaus errichtet und damit eine ständige Quelle widerlicher Gase waren, in den Handwerksbetrieben, die reichlich Abfall produzierten. Ein paar von ihnen hatten schon kleine Kinder umgerannt, andere Gebrechliche zum Straucheln gebracht. Und trotzdem wurde ihnen niemand so richtig Herr.
    Versehentlich war sie in eine tiefe Pfütze getreten und spürte, wie Wasser durch die genagelten Sohlen drang. Ihre Füße in den rauen Wollstrümpfen wurden klamm. Anna unterdrückte einen Fluch, bekreuzigte sich schnell und ging vorsichtiger weiter. Es begann zu dämmern, obwohl es noch immer Nachmittag war. Der Schnee ging in Regen über. Sie hasste diesen traurigen Monat vor Weihnachten, wenn das Licht starb und den langen, dunklen Nächten weichen
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