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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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rumorte in ihrem Bauch. Wahrscheinlich hätte sie vorhin nicht so viel Wasser auf einmal trinken sollen. Seitdem sie die Wasserstelle des Klosters von St. Georg nicht mehr benutzen durften und auf die städtischen Galgenbrunnen angewiesen waren, klagte immer wieder eines der Kinder aus der Familie über Übelkeit und Durchfall. Aber was hätte sie anderes machen sollen? Hillas Grütze war klumpig und angebrannt wie meistens gewesen, die klapprige Milchkuh, die sie einige Zeit im Schuppen gehalten hatten, war längst verkauft, und sie war bereits wieder durstig.
    »Und du?«, wandte Johannes sich an Esra, barsch vor Ungeduld. Ton und Haltung hatte er von seinem Vater abgeschaut, dem reichen Kaufmann Jan van der Hülst, der mit Tuchen, Gewürzen und Waffen im Westen und Süden überaus erfolgreich Handel trieb.
    Der Junge war blass geworden. Er durfte es nicht tun. Nicht um alles in der Welt. Kein Jude durfte das. Es war unrein. Verboten. Geradezu undenkbar.
    »Ich weiß nicht«, sagte er leise.
    »Angst?« Johannes’ Knabenstimme war scharf wie ein Schwerthieb. »Und ich dachte, du bist ein Kerl, der das Wort Feigheit gar nicht kennt!«
    »Ist er doch auch«, warf Anna ein. »Und größer und stärker als du allemal. Beim Raufen bist immer du der Unterlegene, und das weißt du ganz genau.«
    »Worauf warten wir dann noch?« Auch Johannes war aufgeregt. Seine Zungenspitze schnellte immer wieder hervor und befeuchtete die trockenen Lippen. An seinem Dusing, einem zierlichen, tief getragenen Gürtel, hing eine Ledertasche. Er öffnete sie und holte einen Dolch heraus. Der Knauf war mit Gold ziseliert, der geschwungene Stahl schimmerte. »Feinste Sarazenerware«, lobte er. »Direkt aus Venedig importiert und ein kleines Vermögen wert. Hat unser Erzbischof Walram bestellt, der alte Waffennarr, um seine Sammlung zu vervollständigen. Mein Vater würde mich vermutlich vierteilen lassen, wenn er wüsste, dass ich ihn für unsere Zeremonie ausgeliehen habe. Ich muss sehen, dass ich ihn schnellstens in die Kiste zurückschmuggle, aus der ich ihn entliehen habe. Wir sollten also keine Zeit verlieren.«
    Prüfend betastete er die Klinge. Sie war scharf genug, um sich geschmeidig in jedes Hindernis zu bohren.
    Esras Panik wuchs. Er musste den Verstand verloren haben, um sich auf so etwas einzulassen! Hilfesuchend schaute er zu Anna, aber sie mied hartnäckig seinen Blick. Johannes’ linkes Lid zuckte leicht, wie immer, wenn er seine innere Anspannung kaum noch beherrschen konnte. Plötzlich verzerrten sich seine Züge.
    »Kleine Probe gefällig?«
    Bevor die anderen noch antworten konnten, lag vor ihnen eine Schweinepfote auf einem besudelten Taschentuch. Er hob den Arm. Als die Klinge mühelos durch Haut und Fleisch glitt, floss eine Spur dünnen, hellroten Blutes. Dabei bekam seine Hose versehentlich ein paar zusätzliche dunkle Flecken ab, aber Johannes achtete nicht darauf.
    Esra verspürte dumpfe Übelkeit. Sein Kopf begann zu dröhnen. Er dachte daran, wie er zum ersten Mal beim Schächten zugesehen hatte, als der Shohet das Kälbchen mit dem Knie festgehalten hatte, während er vorschriftsmäßig mit dem langen Messer in einer schnellen Bewegung dem Tier die Kehle durchschnitt. Sprudelndes Blut. Und das rasche Ende. So gut wie schmerzlos, wie sein Onkel ihm versichert hatte. Ein Anblick, den er trotzdem schon als Kind kaum ertragen hatte.
    »Stammt aus der heutigen Schlachtung in unserem Hof. Die Sau hat sich ordentlich gewehrt. Was ihr freilich nichts genützt hat.« Johannes ließ das Fleisch achtlos zu Boden fallen. »Na, endlich überzeugt, dass ich mich für das richtige Werkzeug entschieden habe?«
    Eine Sau - hatte er das getan, um ihn zu provozieren?
    Esras Unwohlsein steigerte sich ins Unerträgliche. Aber die Miene des anderen Jungen wirkte ganz unschuldig. Nein, er schien viel zu sehr mit seinen eigenen Ideen beschäftigt. Und trotzdem war die Kluft zwischen ihnen abermals tiefer geworden. Jetzt wirbelten sie alle auf einmal in wildem Durcheinander durch seinen Kopf, die scheußlichen, entwürdigenden Geschichten, die innerhalb der jüdischen Gemeinde hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurden. Von der frisch geschlachteten Sau zum Beispiel, auf deren Zitzen man die Kinder Israels zum Schwur zwang. Judensau nannte man sie. Sogar im Chorgestühl des Doms war eines dieser Schandbilder in Holz geschnitzt.
    Nein, er durfte es nicht! Nicht, wenn er nicht alle anderen seines Glaubens verraten wollte. Er musste
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