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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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Wintermonate um die Mittagszeit den Gesellen und Lehrlingen servieren musste? Aber sie hasste Stockfisch, und die Rüben waren wieder einmal fasrig und zerkocht gewesen. Die Kleine konnte es sich bestimmt nicht leisten, wählerisch zu sein. Und krank war sie noch dazu. Ein Auge eiterte, und die Stimme war ganz heiser. Ob sie auch in Kirchenruinen oder ausgebrannten Häusern übernachtete, wie so viele andere? »Warte! Du bekommst etwas vom Speck ab, wenn ich eingekauft habe.«
    »Speck?« Auf einmal klang sie munterer. »Richtigen Speck?« Sie stülpte die Lippen vor und versuchte ein Lächeln.
    »Ja. Aber draußen. Und erst, wenn ich hier mit allem fertig bin.«
    Gut, dass Hilla nicht in ihrer Nähe war! Nachdem sie an der Reihe gewesen war, ihre Vierlinge hingezählt und Kraxe und Korb bis oben beladen hatte, fing die Kleine sie sofort ab. Die anderen Bettler waren inzwischen verschwunden, wahrscheinlich auf der Suche nach lohnenderen Orten. Inzwischen war es ganz dunkel geworden; der Regen fiel stärker, und kräftige Windböen fegten um die Häuser. Ein rußender Kienspan, der vor dem Schuppen wild im Wind flackerte, war die einzige Beleuchtung.
    Anna nahm eine dicke Schwarte heraus. »Aber ich habe kein Messer hier …«, begann sie unschlüssig. »Und kein einziges Stückchen Brot.«
    Das Mädchen riss ihr das Stück aus der Hand und fiel darüber her wie ein hungriges Tier. »Geht auch ohne Messer«, sagte sie zwischendrin mit vollem Mund, ohne die Beute auch nur einen Augenblick freizugeben. Ihre Zähne waren gelblich und spitz. »Und erst recht ohne Brot.«
    »He, langsam, langsam, sonst wird dir noch schlecht. Hast wohl lange nichts mehr gegessen, was?«
    Sie nickte und kaute weiter. Dann hielt sie inne, berührte Annas Hand. »Vergelt’s Gott«, sagte sie altklug. »Die heilige Ursula, meine Namenspatronin, möge dich schützen. Und unsere gütige Mutter Gottes dich segnen, heute und immerdar. Amen.«
    Plötzlich schien sie ein innerer Krampf zu schütteln. Sie beugte sich nach vorn und erbrach alles, was sie gerade gierig verschlungen hatte. Stöhnend richtete sie sich wieder auf.
    »Aber du glühst ja!« Anna berührte die schmutzige Stirn. »Du hast hohes Fieber und musst sofort ins Bett! Wer kümmert sich denn um dich?«
    »Ursula hat kein Bett«, sagte die Kleine jämmerlich. »Und niemanden, der sich um sie kümmert. Mutter tot. Vater tot. Letzte Woche ist nun auch der alte Walther gestorben, der mich bei sich hat schlafen lassen.« Sie mochte elf oder zwölf sein, klein für ihr Alter und erbärmlich dürr. Manche dieser Bettlerkinder bekamen schon als Säuglinge Bier eingeflößt, damit sie langsamer wuchsen und somit eher das Mitleid der Wohlhabenden erregten. Einige von ihnen waren in regelrechten Zünften organisiert und streiften stets in Horden durch die Stadt. Es gab mehr als einen ehrbaren Bürger, der sie fürchtete. »Ich friere. Meine Füße sind schon ganz taub, und mein Bauch fühlt sich an, als wären lauter Steine drin. Nimmst du mich mit?«
    Nach Hause? Das ging auf keinen Fall. Mit ihrem Vater wäre vielleicht noch zu reden gewesen, aber was Hilla zu diesem unerwarteten Besuch sagen würde, malte sie sich erst lieber gar nicht aus.
    Ursula hatte zu zittern begonnen; ihre Zähne schlugen aufeinander. »Bin krank«, flüsterte sie. »Mein Hals tut mir so weh. Lass mich nicht allein im Regen - bitte!«
    Anna überlegte fieberhaft. Bis zum Karmeliterkloster war es entschieden zu weit. Die Kleine hatte ja nicht einmal ordentliche Schuhe. In früheren Wintern hatte Bela van der Hülst in dem alten Wollschuppen am Weschbach ein provisorisches Armenlager eingerichtet gehabt, wo sie einmal pro Tag mit ihren Mägden erschien, um Suppe auszuschenken und Brot zu verteilen, allerdings nur so lange, bis sich die ansässigen Handwerker wegen Unrat, Radau und häufiger Diebstähle dagegen verwehrt hatten. Jetzt blieb sie lieber zu Hause, pflegte ihr Gliederreißen und die Vielzahl anderer Malaisen, die sie plagten, und ließ in mehreren Kirchen Totenmessen für Verstorbene lesen, um gute Werke zu tun.
    Was blieb noch? Das alte, inzwischen längst baufällige Findelhaus an der Stadtmauer nahe dem Severinstor, das seit einigen Jahren von den Nonnen des nahegelegenen Klosters betreut wurde? Anna, die bei ihren Spaziergängen mit Esra und Johannes niemals ohne leichten Schauer an den feuchten Mauern und dem fest verschlossenen Tor vorbeigehen konnte, erschien es eher als Zuchthaus denn als Asyl, ein
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