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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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musste. Dann war man viel zu früh ins Haus verbannt, an den Spinnrocken, den klapprigen Webstuhl, oder musste die Färbearbeiten statt draußen in dem zugigen, unzureichend beleuchteten Schuppen nahe dem Blaubach erledigen, den ihr Vater vor ein paar Jahren günstig von einem verschuldeten Zunftmitglied gekauft hatte.
    Falls Hilla sie nicht im »Schwan« brauchte. Seitdem sie damit begonnen hatte, ihren Gästen nicht nur Wein, Bier und selbst gebrannten Schnaps vorzusetzen, sondern auch noch Innereien und deftige Eintöpfe, war das Wirtshaus jeden Abend brechend voll. Dabei war sie eigentlich eine lausige Köchin, die ihre mangelnden Fähigkeiten mit einem Übermaß an Gewürzen kaschierte. Was wiederum Hermann erzürnte, der argwöhnisch auf jeden Pfennig sah, der nicht für seine nebulösen Pläne verwendet wurde, über denen er nächtelang brütete. Und jetzt, wieder einmal die ersten paar Monate schwanger, schien Hilla Windeck noch mehr als sonst erpicht darauf, ihrer Stieftochter die ganze Arbeit in der Küche anzuhängen. Gegen Kritik war sie allergisch. Widerspruch konnte sie nicht ertragen. Im Gegenteil, beim kleinsten Aufmucken petzte sie sofort.
    »Wenn wir diese große Trine schon durchfüttern müssen, soll sie gefälligst auch für ihr Brot arbeiten«, schimpfte sie so lange, bis ihr Mann die Geduld verlor. »Andere Mädchen sind mit fünfzehn längst unter der Haube. Aber für dein verehrtes Fräulein Tochter ist ja keiner gut genug. Wahrscheinlich wartet sie so lange auf ihren Prinzen aus dem Morgenland, bis sie zu alt ist, um noch einen rechtschaffenen Handwerker abzubekommen. Und wir, wir haben sie bis zum Ende aller Tage auf dem Hals!«
    Hermann Windeck, Annas Vater und seit nunmehr neun Jahren in zweiter Ehe mit Hilla verheiratet, war ein großer, starkknochiger Mann, der nicht viel redete und lautes Gezänk mehr als alles andere verabscheute. Meistens entzog er sich wortlos, was Hilla erst recht in Rage brachte.
    »Scheint bei euch in der Familie zu liegen!«, keifte sie weiter. »Denn nirgendwo sonst in Köln laufen so viele nutzlose Weibsbilder herum, die dabei die Nase derart hoch tragen.«
    »Dann sorge du dafür, dass es in dieser Familie endlich einen Sohn gibt!«, herrschte er ausnahmsweise zurück. »Vielleicht wird dann ja alles anders.«
    Jeder in der Zunft wusste, warum Hermann, der Färber, damals nach dem Tod seiner Frau die blutjunge Hilla gefreit hatte. Weil sie gesund und kräftig wirkte, mit dem breiten Becken, den üppigen Brüsten und den stämmigen Schenkeln geradezu ideal zum Gebären, und er sich mehr als alles andere einen Sohn und Erben wünschte. Aber jedes Kind, das sie zur Welt brachte, war weiblich. Es gab Barbra, die Achtjährige, und Agnes, die gerade den fünften Geburtstag gefeiert hatte. Alle folgenden Schwangerschaften, regelmäßig jedes Jahr, hatten vorzeitig geendet. Mittlerweile hoffte sogar Anna inständig, dass es diesmal ein Junge sein würde - vorausgesetzt, alles ging bis zum Ende gut und die Hebamme musste nicht wieder zu früh gerufen werden, um seltsame, unfertige Wesen in blutige Tücher zu wickeln und im Schutz der Nacht heimlich wegzuschaffen.
    Anna war beinahe am Ziel und seufzte laut, als sie die Menschenschlange sah, die vor dem niedrigen Gebäude anstand. Neben einem Rudel hungriger, halb wilder Katzen hatten sich ringsherum auch ein paar menschliche Gestalten in Lumpen platziert, in der Hoffnung, hier etwas abzubekommen, wo Leute einkauften, die selber sparen mussten. Trotz guter Auftragslage vieler Handwerksbetriebe, trotz der sagenhaften Gewinne der reichen Kaufmannsgeschlechter gab es in Köln so viele Arme wie nie zuvor. Alte waren darunter, Kranke, aber auch immer mehr junge Menschen, die vor ein paar Jahren noch am Hafen ab und zu Gelegenheitsarbeiten erhalten hatten. Und immer mehr Frauen und Kinder.
    Eines von ihnen, ein kleines Mädchen mit rotzverschmierter Nase und blonden, verfilzten Zöpfen, kam näher und drückte sich an Annas Rock. Sie trug einen Umhang über dem dünnen Kleidchen, keine Strümpfe und steckte mit ihren mageren Beinen in einem Paar viel zu großer Holzpantinen. Ihre Augen waren beinahe schwarz, das Gesicht dreieckig und fleckig gerötet. »Hast du nicht etwas zu essen für mich?«, sagte sie leise. »Ich hab solchen Hunger!«
    »Ich auch«, erwiderte Anna unfreundlich und schämte sich im gleichen Augenblick. Wieso hatte sie nicht mehr von der Brotzeit genommen, die Hilla auf Hermanns Anordnung während der
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