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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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Prolog
    Ihr Gesicht. Nur immer ihr Gesicht. Es verfolgte ihn im Wachsein und erst recht in den wilden, fieberhaften Träumen, die ihn schon seit einiger Zeit überfielen und morgens zerschlagen und schuldbewusst erwachen ließen. Unablässig war es bei ihm, wohin er ging, was immer er tat, mit wem er auch sprach. Manchmal fühlte er sich ganz schwerelos dabei, leicht wie eine Feder im Wind, dann wieder kam es ihm vor, als stürze er ohne Vorwarnung in einen tiefen Abgrund, genarrt durch das Verhallen ihrer Stimme. Schien nicht alles, was er erlebte, plötzlich unwirklich? Jede Farbe leuchtender, die Konturen schärfer? Roch nicht alles intensiver, wenn er ihr begegnete oder sich nach ihr sehnte? War nicht selbst der leiseste Laut durch sein eigenes Echo verstärkt?
    Die feste, zart bräunliche Haut. Die Nase mit dem schmalen Rücken, zu kühn für ein Mädchen, fast schon herrisch. Die Lippen, schmal und spöttisch, leicht gekräuselt und unwiderstehlich, wenn sie lachte und dabei starke, weiße Zähne sehen ließ, eine harte Linie, wenn sie zornig oder ärgerlich wurde. Am schönsten für ihn aber waren Annas Augen, weit auseinanderstehend, schiefergrau und so unergründlich wie das Meer an stürmischen Tagen, an dem er sich nicht hatte satt sehen können, als er mit seinem Onkel Jakub vor zwei Jahren aus seiner Vaterstadt Köln aufgebrochen war, um Verwandte in Flandern zu besuchen.
    Jetzt waren sie geschlossen. Sie schlief, den Rücken an eine Säule in der Kapelle gelehnt, wo im letzten Sommer die große Feuersbrunst gewütet hatte, sorglos und gelöst wie ein kleines Kind; ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Schweißtröpfchen schimmerten auf ihrer hohen Stirn, und auch das braune Haar, das sich längst aus den stets ungeduldig geflochtenen Zöpfen gelöst hatte, war an den Schläfen feucht. Es lag vermutlich nicht allein an der frühsommerlichen Hitze, die sich in diesen ersten Maitagen anno Domini 1338 wie eine dumpfe Glocke über die große Stadt am Rhein gestülpt hatte und in dem rußstarrenden Kirchenschiff beinahe ins Unerträgliche gesteigert wurde. Wahrscheinlich war Anna hierhergelaufen, so schnell sie nur konnte, wie sie es meistens tat, als sei gemächliches Bewegen ihrem Wesen ganz und gar fremd. Sie ist ein Wirbelwind, dachte er zärtlich, eine frische Brise, die unbekümmert durch die Gassen fegt und selbst tief hängende Wolken zum Aufreißen zwingt.
    Er machte einen Schritt auf sie zu. Und blieb unentschlossen doch wieder in einigem Abstand vor ihr stehen. Esra David Joshua, Sohn des verstorbenen Pfandleihers Simon, Neffe des von der ganzen Gemeinde verehrten Rabbiners Jakub ben Baruch de Friedland, zögerte, sie einfach anzustupsen und aufzuwecken. Er wusste, dass Anna die Bettstatt mit den ungezogenen kleinen Stiefschwestern teilen musste, die sie piesackten und ihr den Platz streitig machten. Dass ihr Tagwerk lang und anstrengend war und sie nach der Arbeit am Blaubach immer häufiger bis spätabends ihrer Stiefmutter in der Wirtsstube bei der Bedienung der Gäste helfen musste. Sie war nach dem viel zu frühen Tod ihrer Mutter und ihres neugeborenen Zwillingsbruders ein Waisenkind gewesen wie er, aber sie hatte nicht das Glück gehabt, unter der Obhut einer liebevollen Tante und eines klugen Onkels aufzuwachsen, der ihm die meisten seiner zahlreichen Fragen beantworten konnte. Ihre kräftigen Hände, die nichts Kindliches mehr hatten, verrieten, wie hart die Tochter des Färbers Hermann Windeck herangenommen wurde. Spuren von blauem Waid zogen sich bis über die Ellenbogen; und unter den abgebrochenen Fingernägeln hatte sich rötliches Krapp abgesetzt.
    Sie seufzte leise und räkelte sich im Schlaf. Dabei verschob sich ihr verschlissenes Kleid, das über der Brust allmählich zu eng wurde, rutschte nach oben und gab eine schlanke, unerwartet schutzlose Wade frei. Unwillkürlich schoss ihm das Blut in die Lenden, und ein seltsames, wehes Gefühl ließ ihm die Kehle ganz eng werden. Sie an sich zu reißen, in ihren Haaren zu wühlen, sie zu küssen, ihre Hüften zu berühren …
    Beschämt wandte er sich ab. Seine grünlichen Augen, die ins Blaue gehen konnten, wenn er wütend wurde, schlossen sich. Verlegen kratzte er in seinem lockigen, dunklen Haar, das kein Kamm jemals vollständig bändigen konnte. Dann wischte er sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Gehörte er jetzt etwa auch schon zu der Horde geiler Gaffer, die ihr, wie sie ihm kürzlich errötend anvertraut hatte, in der
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