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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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wusste. Recha schaffte in der gleichen Zeit zwei davon. Man sah es ihr an, wie leidenschaftlich gern sie kochte und aß. Schon in früher Jugend war sie ein rundes, weiches Naschkätzchen gewesen, mit einer Haut wie Milch, korallenroten Locken und lustigen blauen Augen. Mittlerweile war ihr Körper schwer, und sie klagte oft über ihre dünnen, knotigen Beine, die die ganze Last tragen mussten. Sie war eine treue, tapfere Seele, das beste Weib, das er sich vorstellen konnte. Egal, ob sie beim Gehen schnaufte, egal, ob sie Falten bekam und allmählich immer mehr Silberfäden ihr Haar durchzogen - er liebte sie wie am ersten Tag. Auch wenn es nicht immer leicht für ihn auszuhalten war, dass sie alles besser wusste.
    »Hörst du nichts? War da nicht nebenan ein Krächzen? Vielleicht bekommt das Kind keine Luft!« Er stand schon wieder halb, aber Recha war trotz ihrer Fülle schneller an der Tür.
    »Jetzt fängst du schon an zu fantasieren, Jakub ben Baruch«, sagte sie mit gespielter Strenge, als sie wieder zurückkam und sich auf den Stuhl fallen ließ. »Da siehst du, wie weit es mit dir gekommen ist! Ähnlich wie Menschen, die ohne Wasser zu lange in der Wüste unterwegs sind. Lea schläft. Und sie wird wieder gesund werden. Salomon war heute ganz zufrieden mit ihr.«
    Sie verriet ihm nicht, was der Arzt im Einzelnen gesagt hatte, als sie ihn hinaus in den Hof begleitet hatte, wo ihr Gärtchen jetzt unter einer dünnen Schneedecke lag. Dazu war noch immer genügend Zeit. Ein schneller Blick zurück, zu dem Haus mit dem spitzen Giebel, dem Schieferdach und den schmalen, bleigefassten Fensterscheiben, die unvernünftig teuer gewesen waren. Das Judentor, das jeden Abend sorgsam abgeschlossen wurde und das Kölner Judenviertel - begrenzt von dem Straßenviereck Stesse im Norden, Marspforte im Süden, Alter Markt im Osten und Unterer Goldschmied im Westen - und in ihm die Kinder Israels vor Angriffen schützen sollte, lag in beruhigender Nähe. Ihr Herz zog sich vor Liebe und Angst schmerzlich zusammen. Als feste, uneinnehmbare Burg, so hatte Recha ihr Heim seit jeher gesehen, in die nichts Böses eindringen durfte, so schrecklich die Welt draußen auch sein mochte. Nach dem Tod von Simon und Miriam, den Eltern Esras und Leas, hatte sie gehofft, dass das Leid ihrer Lieben nun für lange Zeit ein Ende haben würde.
    Und doch war mit Leas Krankheit das Unvorstellbare wieder ganz nah gerückt. Jakub liebte die Kleine wie sein eigenes Kind, und ihre Pein hatte ihn selber ganz elend werden lassen. Höchste Zeit, dass auch er wieder zu Kräften kam! Die Gemeinde brauchte ihn, in diesen schwierigen Zeiten, und die Familie erst recht. Was hätte es für einen Sinn, ihn mit düsteren Prognosen zu beunruhigen?
    Trotzdem ging ihr nicht aus dem Kopf, was ihr der junge Mann mit dem kurz geschnittenen Bart und den sanften Augen anvertraut hatte. Seitdem sein Onkel nach Straßburg gezogen war, sorgte er für die Kranken der jüdischen Gemeinde. Und er schlug sich wacker, schien unermüdlich in seinem Einsatz für alle, die seine Hilfe brauchten. Inzwischen hatte er sogar die ärgsten Skeptiker zum Schweigen gebracht. Gut, er mochte noch wenig reif an Jahren sein, aber änderte sich das nicht jeden Tag ein Stück zu seinen Gunsten? Was der Ältere ihm an Erfahrung voraus gehabt hatte, machte er durch seine Fürsorge und Gewissenhaftigkeit wieder wett. Das galt auch für die Behandlung seines eigenen Vaters, der an der Lungenkrankheit litt und seit dem Einsetzen des kalten Wetters sehr schwach geworden war.
    »Mäßiges Fieber, leichter Schnupfen, ein bisschen Kopfschmerzen, Zwicken im Bauch - genau wie bei deiner Nichte! Leider fängt es meistens so harmlos an. Nach wenigen Tagen scheint alles vorbei. Und dann befällt innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine Lähmung die menschliche Muskulatur. Die Beine, Oberschenkel, die Arme, sogar den Hals, wenn es ganz schlimm kommt …« Er rieb sich die Augen, als habe er schon lange nicht mehr genug geschlafen. »Das ist jetzt zum Glück bei Lea nun überstanden. Die Rückbildung hat bereits eingesetzt und damit die Entscheidung, was steif bleibt und was wieder beweglich wird. Sie kann sich über Wochen erstrecken, vielleicht sogar Monate. Ich denke, deine Nichte hat großes Glück gehabt. Vermutlich wird sie wieder gehen können, wenngleich es möglich ist, dass gewisse Gliedmaßen aufhören zu wachsen.«
    »Was meinst du damit?« Entgeistert starrte sie ihn an. »Was soll das heißen?«
    Er
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