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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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konnte, bis man es schließlich wiederentdecken würde.
    Ein nackter Mann, mit der Seitenwunde, den Stigmata an Händen und Füßen.
    »Das Grabtuch des Gekreuzigten«, murmelte er. »Damit du nicht umsonst gestorben bist, mein Sohn. Gott sei deiner verirrten Seele gnädig, mein Johannes!«
     
    Bocca war keinen Augenblick von Annas Krankenlager gewichen. Unermüdlich flößte er ihr die Tränklein und Pillen ein, kühlte ihren Körper mit kalten Wickeln, ließ Wasser auf die rissigen Lippen rinnen.
    Sie stöhnte, sie schrie, sie raste. Besudelte das Linnen, das er immer wieder wechselte und eingehend untersuchte. Nicht einmal war Blut dabei. Sie hatte das Kind noch nicht verloren.
    Er hatte die schwarzen Beulen unter ihren Achseln, in ihren Leisten mit einer speziellen Mischung aus Honig, Schlamm und Benediktenkraut bestrichen, die er immer wieder abwusch und sorgsam erneuerte. Eines von Leilahs alten Rezepten, das sie, wenn er sich recht erinnerte, angeblich noch von ihrer Großmutter kannte. Allerdings nutzlos, wie es schien, ganz und gar unwirksam.
    Nach drei durchwachten Nächten verließ ihn die Geduld. Was sollte er nun tun? Angst überfiel ihn. Sie wurde ständig schwächer. Er konnte doch nicht zusehen, wie sie unter seinen Händen langsam verendete!
    Er ging hinunter in die Küche, aß lustlos ein paar Brocken kalte Grütze. Trank gierig den Rest Most aus. Dann begann er überall zu suchen, und als er das Fleischmesser schließlich entdeckt hatte, kehrte er mit ihm in die Krankenstube zurück.
    Gerade kroch die Morgendämmerung durch die Fensterritzen. Er löschte das Talglicht und sammelte sich, um den Mut zu finden, auch zuzustoßen.
    Mit einem Mal schlug Anna die Augen auf.
    »Es sticht so furchtbar«, sagte sie laut und deutlich. »Und es brennt und stinkt. Bin ich das? Oder bin ich schon tot?«
    Er war sofort bei ihr, schob das Hemd zur Seite. Die Beulen waren aufgegangen. Blut, Eiter und eine dunkle, schleimige Flüssigkeit rannen heraus.
    »Du wirst leben!« Seine Augen begannen zu strahlen. »Und dein Kind mit dir.«
    »Lass uns fahren, Bocca.« Sie hatte die Augen wieder geschlossen, aber sie war bei klarem Bewusstsein. »Fort von hier. Weit fort! So bald wie möglich. Am besten schon morgen. Dorthin, wo der Himmel weit ist und das Meer unendlich. Was ist - nimmst du uns mit?«

Epilog
    Am liebsten von allem hatte sie den Wind, der ihr wie der Atem Gottes vorkam, wenn er die Wellen zu hohen Kämmen mit weißlicher Gischt türmte und den Sand aufwirbelte. Sie hatte sich angewöhnt, am Strand entlangzugehen, als das Wetter langsam besser wurde, hinaus auf das Meer zu schauen und auf den Himmel, mit dem es irgendwo in weiten Fernen verschmolz. Vorzugsweise ganz früh, wenn der Morgen graute und die ganze Küste in rosenfarbiges Leuchten tauchte, wenn Möwen ihre scharfen Kurven in den Himmel schnitten und der Nebel sich zögernd lichtete.
    Bis zum Vortag ihrer Niederkunft hielt sie daran fest, obwohl Bocca langsam unruhig wurde und sie mehrmals fragte, ob sie ihr Kind denn wie eine Robbe am Strand gebären wolle. Sie wohnten schon lange nicht mehr bei Gassel, dem Fischer, der ihnen über die Wintermonate Unterschlupf in seiner Scheune gewährt hatte, als wütende Stürme über Meer und Land gefegt und mannshohe Wellen über das Ufer gebrandet waren. Er war ein wortkarger Mann gewesen, verwitwet, mit drei kleinen Buben, dessen helle Augen oftmals wohlgefällig über Annas immer fülligeren Körper geglitten waren. Und ein gutmütiger Mann dazu. Ein Kopfschütteln hatte genügt, um seinen rauen, sehnsüchtigen Händen Einhalt zu gebieten, als sie am Waschbrett gestanden hatte.
    »Ich kann ihn einfach nicht vergessen, Gassel!« Nicht nötig, ihm zu verraten, dass es zwar zwei Männer gewesen waren, die als Vater infrage kamen, es jedoch nur ein einziger Geliebter war, an den sie immer wieder denken musste, in jenen stürmischen Nächten an der flandrischen Küste, wo kein Hügel, kein Berg, keine Erhebung den Blick auf Land und Meer verschloss.
    Er deutete ihr Verstummen auf seine einfache Weise und nickte traurig. »So geht es mir auch mit meiner verstorbenen Margarete. Keine ist wie sie, keine!«
    Seitdem ließ er sie in Frieden und wurde auch freundlicher zu Bocca, den er bislang eher unwirsch behandelt hatte. Der ungeduldige junge Gugelmann freilich drängte auf Aufbruch, als die Tage länger wurden und Wolken von Vögeln im Aufwind tanzten.
    »Es gibt so viele reiche Städte hier und wohlhabende
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