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Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt

Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt

Titel: Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt
Autoren: Jörg Baberowski
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«Und wir sollten auch nicht das Naheliegende übersehen –
daß Stalin es getan hat, weil es ihm gefallen hat.»
(Martin Amis, «Koba der Schreckliche»)
    VORWORT
    «Es sollte Brauch sein, es sollte Kultur genannt werden», schreibt Martin Walser, «daß jemand, der etwas behauptet, das, was er behauptet, auch widerlegt.»[ 1 ] Schriftstellern läßt man solche Sätze durchgehen. Denn sie schreiben auf, was sich aus ihrer frei gewählten Erzählperspektive ergibt. Historiker aber müssen im Meinungsdienst Leistungen erbringen, die als Wissenschaft erkennbar sind. Das jedenfalls erwarten Leser, die in historischen Büchern nach Wahrheiten suchen, die ihnen Antworten auf ungelöste Fragen zu geben versprechen. Historiker wissen, wenn sie sich dazu entschließen, ein Buch zu schreiben, daß man sie als Anwälte von Thesen und Meinungen identifiziert und ihnen deshalb immer wieder abverlangt wird, Bekanntes vorzutragen. Es soll Historiker geben, die ihr Leben lang an Meinungen festhalten und sie in den Rang ewiger Wahrheiten erheben, nur weil sie diese Meinungen irgendwann einmal aufgeschrieben haben. Recht haben zu müssen, ist anstrengend. Noch anstrengender ist es, immer mit der gleichen Meinung recht haben zu müssen. Deshalb war ich froh, als ich unverhofft die Gelegenheit erhielt, Neues zu sagen und Altes zu verwerfen.
    Als ich vor zwei Jahren gefragt wurde, ob ich mein 2003 erschienenes Buch «Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus» für eine Übersetzung ins Englische überarbeiten könne, wußte ich allerdings nicht, worauf ich mich einlassen würde. Ich hatte mir alles ganz einfach vorgestellt: Ich müßte nur den Text lesen, so dachte ich, und dann würde ich ergänzen, was seit 2003 zu diesem Thema Bedenkenswertes gesagt worden war. Aber je mehr ich las, desto größer war die Enttäuschung. Es war eine Qual, das eigene Buch zu lesen, dessen Sätze und Diktion mir nicht mehr gefielen, und ich glaubte, auch die Leser hätten es so empfinden müssen. Mein eigenes Buch entsprach mir nicht mehr. Alles, was ich seitdem über Stalin und den Stalinismus gelesen, gesagt und geschrieben hatte, stand in merkwürdigem Gegensatz zu jenen kräftigen Meinungen, die dem Buch eine Struktur gegeben hatten. Auf einen identifizierbaren Text wollte ich auch jetzt nicht verzichten. Unter gar keinen Umständen aber wollte ich wiederholen, was ich 2003 gesagt hatte, denn vieles von dem, was einmal für richtig gehalten werden konnte, erschien mir sieben Jahre später als Unfug. Das Buch sollte schöner und klarer werden, und zu diesem Zweck, das wurde mir sofort klar, müßte ich widerlegen, was ich einst geschrieben hatte. Schon nach wenigen Wochen arbeitete ich nicht mehr am alten, sondern am neuen Buch.
    Seit 2003 hatte ich mehrere Jahre damit zugebracht, mir selbst zu erklären, wie es geschehen konnte, daß in der Sowjetunion der Stalin-Ära Millionen Menschen getötet, aus ihrer Heimat vertrieben, in Lager eingesperrt wurden oder verhungerten. 2003 hatte ich die Thesen des Soziologen Zygmunt Bauman noch für eine Offenbarung gehalten. Das Streben nach Eindeutigkeit, die Überwindung von Ambivalenz und die Ordnungswut des modernen Gärtnerstaates, schrieb Bauman, seien die Ursachen für die monströsen Vernichtungsexzesse des 20. Jahrhunderts gewesen. Eine schöne Idee, zweifellos, die aber nichts weiter als eine Behauptung blieb.
    Je mehr ich über die Gewalt der Stalin-Zeit las, desto klarer wurde mir, daß meine früheren Interpretationen des Geschehens revidiert werden müßten. Stalin war, daran ließen die Dokumente, die ich inzwischen gelesen hatte, keinen Zweifel, Urheber und Regisseur des millionenfachen Massenmordes. Das kommunistische Experiment des neuen Menschen gab den Machthabern eine Rechtfertigung für die Ermordung von Feinden und Aussätzigen. Aber es schrieb ihnen den Massenmord nicht vor. Und so sprachen Stalin und seine Gefährten auch nicht von der schönen neuen Welt, wenn sie darüber berieten, was mit den vermeintlichen Feinden ihrer Ordnung geschehen sollte. Sie sprachen statt dessen über Techniken der Gewalt. Erst im Ausnahmezustand konnte ein Psychopath wie Stalin seiner Bösartigkeit und kriminellen Energie freien Lauf lassen. Der Traum von der kommunistischen Erlösung wurde im Blut der Millionen erstickt, weil sich die Gewalt von den Motiven löste und weil der Diktator Gewalt nur noch seinen Machtzwecken unterordnete. Es ging am Ende allein um die Anerkennung von
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