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0464 - Der Tod der Lebedame

0464 - Der Tod der Lebedame

Titel: 0464 - Der Tod der Lebedame
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Ich fiel nicht gleich vom Stuhl, aber ich hatte das sichere Empfinden, daß man ruhige Sonntage nicht vor dem Abend loben soll. »Wenn es ein Verkehrstoter sein sollte…« begann ich, aber die Dame in Rot ließ mich nicht aussprechen. »Ich bin nicht gekommen, um einen Unfall zu melden«, sagte sie.
    »Kein Unfall also«, bemerkte ich überflüssigerweise. Ich hatte nichts dagegen, etwas Zeit zu gewinnen. Die Dame in Rot war, um es milde auszudrücken, eine hochinteressante Erscheinung. Sie' war zweifellos nicht mehr ganz neu, und meine Schätzung, daß sie seit mindestens 35 Jahren ihre Umgebung mit den großen graugrünen Augen und einer hinreißenden Figur verwirrte, erwies sich später als zutreffend.
    Das Gesicht hatte Klasse. Die hoch angesetzten Backenknochen waren von der Art, die Schönheit über Jahrzehnte hinweg zu konservieren versteht. Nur die Haut hatte schon etwas von ihrer jugendlichen Straffheit und Frische verloren; unter der dünnen Puderschicht wirkte sie leicht brüchig, wie wertvolles Pergament.
    »Wie ist Ihr Name?« fragte ich und nahm den Kugelschreiber.
    »Woher soll ich das wissen?« erstaunte sie sich. Ich begriff, daß sie glaubte, ich spräche von der Leiche.
    »Ihren Namen hätte ich gerne, Madam.«
    »Ich bin nicht verheiratet«, informierte sie mich. »Haben Sie eine Zigarette da?«
    Ich schob ihr ein Päckchen hin und gab ihr Feuer. Sie hielt meine Hand für den Bruchteil einer Sekunde fest. Ich hatte das Gefühl, daß sie mit Männern umzugehen verstand.
    »Danke«, sagte sie und lehnte sich zurück. »Ich bin Vivian Derridge.« Sie sagte es mit einer kühlen, stolzen Selbstverständlichkeit.
    Ich schrieb den Namen auf. »Ihre Adresse?«
    »Ost 72. Straße, Nummer 1164.«
    »Also ganz in der Nähe«, stellte ich fest. »Deshalb komme ich doch zu Ihnen«, meinte sie. »Es war ja nur ein Katzensprung.«
    »Warum haben Sie nicht angerufen?«
    »Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich hätte dann auf Sie warten müssen… mit der Leiche im Rücken.« Sie schüttelte sich. »Nein, das wäre zuviel für mich gewesen!«
    »Wie kommt die Leiche in Ihre Wohnung?« erkundigte ich mich.
    »Das ist eine gute Frage«, meinte sie. »Darauf wüßte ich gern eine Antwort.«
    »Ehe ich die Mordkommission verständige, die für den Fall zuständig ist, möchte ich noch einige Fragen an Sie richten. Wann haben Sie die Leiche entdeckt?«
    »Als ich nach Hause kam… etwa vor einer Stunde«, sagte sie.
    »Sie waren verreist?«
    »Ja. Am Freitag bin ich abgeflogen… nach Boston.«
    »Wie lange hatten Sie vor, dort zu bleiben?«
    »Eine Woche. Leider wurde mein Freund krank, so daß ich gezwungen war, heute morgen zurückzufliegen.«
    »Wer ist Ihr Freund?«
    Vivian Derridge betrachtete interessiert das glühende Ende der Zigarette. »Ich möchte ihn nicht in diese Sache hineinziehen. Wenn es Ihnen um ein Alibi gehen sollte, können Sie sich an die Fluggesellschaft wenden. Ich bin mit der INTERAM geflogen.«
    »Ist es eine männliche oder eine weibliche Leiche?« fragte ich.
    »Eine männliche.«
    »Kennen Sie den Toten?«
    »Ich bin außerstande, diese Frage zu beantworten«, erwiderte sie und zog wie fröstelnd die Schulter hoch. »Das Gesicht ist nicht zu erkennen…«
    Ich legte die Stirn in Falten. »Führen Sie das auf die Folgen des Schusses zurück?«
    »Ich würde eher sagen, daß er verbrannt wurde.«
    »Verbrannt?«
    Vivian Derridge lehnte sich zurück und schloß erschöpft die Augen. »Ich werde das Bild nie vergessen«, murmelte sie. »Ich muß Sie nachher bitten, allein hinaufzugehen. Ich habe nicht die Kraft, mir das ein zweites Mal anzuschauen.«
    »Schildern Sie bitte genau, wie und wo Sie den Toten fanden«, bat ich. »Haben Sie nach der Entdeckung der Leiche sofort die Wohnung verlassen, um hierherzukommen? Oder haben Sie sich erst in den anderen Räumen umgesehen?«
    »Ich gtutzte sofort, als ich das Apartment betrat«, erinnerte sie sich. »Dieser Geruch! Ich dachte zunächst, es läge daran, daß die Wohnung seit Freitag nicht mehr gelüftet worden war, aber dann, beim Betreten des Wohnzimmers, sah ich den wahren Grund. Ich mußte mich setzen. Ich glaubte zu träumen! Dann genehmigte ich mir einen dreistöckigen Whisky. Danach torkelte ich zum Telefon. Ich hatte den Hörer schon in der Hand, als mir einfiel, welche Folgen der Anruf haben würde. Nein, ich wollte nicht mit der schrecklich zugerichteten Leiche in der Wohnung bleiben, bis die Polizei kam. Ich wußte, daß Ihr
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