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Pferde, Wind und Sonne

Pferde, Wind und Sonne

Titel: Pferde, Wind und Sonne
Autoren: Federica de Cescco
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Erstes Kapitel
     
     
    Halb sieben Uhr: Lautes Weckergerassel riß Karin aus dem Schlaf. Benommen stöhnte sie, streckte die Hand aus, um das blöde Ding zum Schweigen zu bringen und verkroch sich wieder unter der Decke. Gewöhnlich kam ihre Mutter und zog die knarrenden Jalousien hoch, um sie aus dem Bett zu jagen. Aber an diesem Morgen rührte sich nichts. Erst langsam begriff Karin: Das war ja der erste Ferientag! Gedankenlos und nur aus Gewohnheit hatte sie vor dem Schlafengehen den Wecker gestellt. Karin schloß behaglich die Augen und versuchte weiterzuschlafen. Es gelang ihr nicht. Licht fiel ins Zimmer; die rote Ampel an der Straßenecke hielt den Verkehr an, im Badezimmer summte Vaters Rasierapparat. Karins Gedanken kreisten um das, was sie sich heute vorgenommen hatte: Slips und Socken waschen, die Baumwollblusen bügeln und packen. Mama hatte ihr neue Jeans und Westernstiefel zum Reiten versprochen. Ein Geschenk für Mireille mußte sie selbst kaufen, auch etwas für deren Bruder Alain, den sie nicht kannte. Was konnte man einem vierzehnjährigen Jungen eigentlich schenken? Dann mußte sie zum Bahnhof und die Fahrkarte holen, denn morgen sollte die Reise nach Frankreich losgehen. Sie wollte den ganzen Juli auf einem »Mas« in der Camargue verbringen!
    Das Badezimmer wurde frei: Karin warf die Decke zurück und sprang aus dem Bett. In aller Eile duschte sie und putzte die Zähne. Eigentlich hätte sie sich die Haare waschen müssen, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Hastig schlüpfte sie in die Jeans und zog sich ein sauberes T-Shirt an. Sie stürzte in die Küche, wo ihre Mutter gerade den Kaffee kochte. Mama trug einen roten Bademantel, ihre kurzgeschnittenen Haare waren noch naß von der Dusche.
    »Schon auf?« fragte sie erstaunt. »Ich dachte, du würdest ausschlafen.«
    »Ich Schafskopf habe den Wecker gestellt!« Karin ließ sich auf einen Stuhl fallen und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. »Hab’ ich einen Hunger!«
    »Hunger?« spöttelte Mama, »auf einmal, wo ich sonst die größte Mühe habe, dir morgens etwas einzutrichtern.«
    »In den Ferien ist das eben anders.« Karin goß ringsum Kaffee ein. »Heute morgen habe ich verrückt zu tun!«
    Vater trat in die Küche; er summte »The Yellow Submarine«. Im Gegensatz zur übrigen Familie war er morgens immer guter Laune.
    »Guten Morgen, Spatz! Schon wach! Du hast wohl Reisefieber?« Das geröstete Brot schnellte aus dem Toaster. Karin nahm eine Scheibe und bestrich sie mit Butter.
    »Mama, gibst du mir etwas Geld, damit ich die Sachen einkaufen kann?«
    Ihre Mutter seufzte: »Du wirst mit Jeans zurückkommen, bei denen beim ersten Teller Spaghetti der Knopf abspringt, und Stiefeln in Größe achtunddreißigeinhalb anstatt vierzig.«
    »Nicht vierzig!« protestierte Karin aus vollem Munde. »Neununddreißigeinhalb!«
    »Vergiß nicht, daß du Socken anziehen mußt!« Mama dachte immer praktisch, das war so ihre Art. »Und dann solltest du die Haare waschen, bevor du dich in der Stadt sehen läßt«, fuhr sie fort, »sie sehen ungepflegt aus.«
    »Ich weiß«, brummte Karin.
    Mit ihren aschblonden Haaren, die ihr in Strähnen ins Gesicht hingen, war nicht viel anzufangen. Wenn sie an Mireilles dunkle Lockenpracht dachte, Mireille, die sie morgen Wiedersehen sollte! Das Herz schlug ihr höher.
    Genau vor einem Jahr hatten sie sich in der Straßenbahn kennengelernt. Mireille war am Bahnhof eingestiegen. Karin erinnerte sich an eine verwaschene Baumwollhose, an Leinenschuhe und einen mächtigen Rucksack: Das war Mireille. Sie schien zu den Trampern zu gehören, die mit Bus, Eisenbahn oder Autostopp vom Nordkap nach Afghanistan reisten und zwischendurch in Amsterdam oder Zürich haltmachten. Mireille war braungebrannt, hatte dunkle Augen, glänzendweiße Zähne und war sicher nicht älter als fünfzehn. Karin hatte beobachtet, daß sie ohne Fahrkarte eingestiegen war. Als die Straßenbahn sich in Bewegung setzte, nahm sie aus einem Lederbeutelchen, das an ihrem Gürtel hing, etwas Geld. In Zürich aber muß man die Fahrkarten an der Haltestelle, bevor man einsteigt, lösen; aber wie soll ein Fremder das schon wissen, ein Fremder, der mit einem Stadtplan in der Hand und einem französisch-deutschen Wörterbuch in der Tasche aus dem Zug steigt?
    Karin hatte damals ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, daß kein Kontrolleur die Straßenbahn betreten möge! Aber am Paradeplatz stieg trotzdem einer ein. Karin konnte einigermaßen
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