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Pferde, Wind und Sonne

Pferde, Wind und Sonne

Titel: Pferde, Wind und Sonne
Autoren: Federica de Cescco
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Mit einem Ruck fuhr der Autobus an, eine Wolke Abgase ausstoßend.
    »Arles stinkt im Sommer. Man sollte alle Motorfahrzeuge verbieten«, erklärte Mireille und hielt sich die Nase zu.
    Karin schmunzelte. Mireille ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, gegen die Luftverschmutzung zu wettern. »Und wie soll man sich dann fortbewegen? Zu Fuß?«
    »Zum Beispiel. Oder zu Pferd oder in einem Pferdewagen. Das ist nur eine Sache der Gewohnheit. Die Energiekrise haben wir ja schon. In zwanzig Jahren wird Europa nur noch ein schöner großer Autofriedhof sein!«
    Karin betrachtete die beschatteten Straßen, die von Geschäften und überfüllten Kaffeehäusern gesäumt waren. Mireille hatte recht: Arles erstickte an seinem Verkehr. Die Abgase, die die Hitze noch drückender machten, hüllten Straßen und Plätze ein. Aber war das nicht in allen Städten der Fall?
    Der Autobus fuhr durch den breiten Boulevard des Lices und bog dann ab. Mireille zeigte auf eine hochragende, grauschwarze Mauer, die eine abschüssige Gasse abzuriegeln schien.
    »Das ist die Arena«, erklärte sie, »sie soll zu Beginn des zweiten Jahrhunderts nach Christus erbaut worden sein. Dort finden sonntags die Wettkämpfe um die Kokarde statt.«
    »Was heißt das?«
    »Das sind Stierkämpfe. Die Teilnehmer, die sogenannten razeteurs , müssen eine Kokarde ergattern, die der Stier zwischen den Hörnern trägt. Es gehört viel Mut und Geschicklichkeit dazu, um den wütenden Angriffen der Stiere zu entgehen.«
    »Und der Stier wird dann getötet?«
    »Gott behüte, nein!« Mireille schüttelte empört den Kopf. »Der Stierkampf in der Camargue ist weder eine Corrida noch ein Rodeo, sondern ein Wettkampf, bei dem das Tier auch eine Chance hat.«
    »So einen Stierkampf würde ich gern einmal sehen«, sagte Karin.
    »Nichts leichter als das. Tante Justine hat zwei Stiere, die nächsten Sonntag in Aigues-Mortes kämpfen werden. Komm, hier müssen wir aussteigen!«
    Sie bahnten sich einen Weg zum Ausgang. Dann überquerten sie eine von Autos und Motorrädern vollgestopfte Straße und gelangten schließlich auf einen von großen Bäumen beschatteten Platz. Ein tumultartiges Gezwitscher tönte aus dem Laub der Bäume; es mußte sich eine ungeheure Zahl von Vögeln darin niedergelassen haben. Rings um den Platz standen Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte.
    »Dort ist unsere Boutique«, sagte Mireille stolz.
    Im Schaufenster, auf das sie wies, sah Karin lange Volantröcke, Leder- und Korbwaren, einige handgestrickte Pullover in leuchtenden Farben und eine Anzahl jener kleinen Statuen aus Ton, in bunte Trachten gekleidet, die in Südfrankreich als Krippenfiguren auf gestellt werden.
    »Nicht schlecht«, sagte Karin.
    »Du hast ja noch gar nichts gesehen!« Mireille stieß die Tür auf. Ein Glockenspiel ertönte.
    In dem nach Lavendel duftenden Halbdunkel sah Karin große, flaumweiche Wolldecken, bunte Baumwollstoffe, bestickte Leinwandtaschen, handgehäkelte, breite Schultertücher. Auf einem Gestell reihten sich zierlich geformte Gläser und bizarre Muschelkästchen. Hinter dem Ladentisch, auf dem Säckchen mit duftendem Lavendel lagen, stand eine großgewachsene Frau mit tiefbrauner Haut und dichten schwarzen Haaren, die im Nacken zu einem Knoten geschlungen waren. Sie trug Jeans und einen Kasack aus türkisfarbener Seide.
    »Mama, das ist Karin«, sagte Mireille und schob ihre Freundin vorwärts.
    Frau Colomb kam hinter dem Ladentisch hervor, umarmte Karin und gab ihr einen Kuß, worüber diese verlegen errötete. »Ich freue mich, dich kennenzulernen! Mireille hat mir viel von dir erzählt!« sagte sie mit herzlicher Stimme. »Du wirst nach der langen Fahrt gewiß todmüde sein! Geht schnell hinauf, Finette wird euch Kaffee machen.«
    Finette war Mireilles Großmutter; das wußte Karin aus den Erzählungen ihrer Freundin. Sie folgte Mireille, die eine dunkle, enge Treppe hinaufpolterte. Ein Flur führte zur Wohnung im ersten Stock. Karin wurde in ein großes Zimmer geführt. Die Fensterläden waren wegen der Hitze geschlossen. Schwere, alte Möbel standen im Raum. An der Decke hing ein großer Leuchter. Es roch ein wenig modrig, nach Bohnerwachs und Äpfeln. »Das Haus ist über hundert Jahre alt und ziemlich verwohnt«, bemerkte Mireille. Als sie »Finette!« rief, wurde eine Tür geöffnet, und es erschien eine ganz in Schwarz gekleidete kleine, alte Frau. Eine Silberbrosche hielt das Schultertuch vorn auf ihrer Brust zusammen. Ihr runzliges Gesicht
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