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Pferde, Wind und Sonne

Pferde, Wind und Sonne

Titel: Pferde, Wind und Sonne
Autoren: Federica de Cescco
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ein älterer Mann zu, der bald mit offenem Mund einschlief. Eine Fliege schwirrte um sein Gesicht. Karin wartete gespannt auf den Augenblick, in dem er sich an der Fliege verschlucken würde. Aber als der Zug in Fribourg einfuhr, erwachte der Mann, und die Fliege verschwand. Nun fuhr der Zug durch Weinberge weiter. Der Genfer See strahlte blau wie der Himmel, die hohen, hellen Häuser von Lausanne flogen vorüber, große Parks mit Zedern und exotischen Bäumen vor Genf, und schon war die Grenze erreicht. Ein kurzer Aufenthalt wegen der Grenzkontrolle, und schon ging die Fahrt weiter. Jetzt war sie in Frankreich!
    Kurz vor Mittag gelangte der Zug nach Lyon. Die Stadt kam Karin groß vor. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Menschen, die sich mitsamt ihrem Gepäck drängelten und schubsten. Der Zug war überfüllt. Karin saß eingezwängt zwischen dem Fenster und einer dicken, stark parfümierten Frau, die sie dauernd mit dem Ellbogen in die Seite stieß. Ihr gegenüber saß ein ungefähr gleichaltriges Mädchen und hielt einen Katzenkorb offen auf dem Schoß. Karin sah die Augen der Katze gelb leuchten. Jedesmal, wenn das Tier miauend klagte, streichelte es das Mädchen.
    Karin verschlang die beiden belegten Brote und den Apfel. Die Orange sparte sie auf. Es war heiß. Karin kämpfte gegen den Schlaf, betrachtete das blaugraue Band der Rhone, die zwischen niedrigen Dämmen dahinfloß. Sie sah Weinberge, Getreidefelder, Zypressen. Es war eine friedliche, aber eintönige Landschaft, wo nichts Besonderes ins Auge fiel. Karin renkte sich vor Gähnen fast die Kinnladen aus. Sie war ja heute auch in aller Frühe aufgestanden. Der Anblick dunkler Festungswälle und massiver Türme, die ins Licht aufragten, riß sie aus ihrer Stumpfheit. Das mußte Avignon sein!
    Sie stand rasch auf, stieß an Ellbogen und Knie von irgend jemand. Ihr Rucksack prallte unsanft mit einem Schädel zusammen. Karin stotterte eine Entschuldigung.
    Uff! Endlich stand sie auf dem Bahnsteig! Im Gegensatz zu dem Gedränge in Lyon machte der Bahnhof von Avignon einen eher verlassenen Eindruck. Der Zug nach Arles wartete bereits. Karin fand ein fast leeres Abteil. Das hätte sie geschafft, dachte sie und machte es sich bequem. Im Abteil saß nur ein alter Mann, der in ein großes Taschentuch hustete. Er schien erkältet zu sein. Der Zug fuhr mit halbstündiger Verspätung ab. Obwohl es schon Nachmittag war, stand die Sonne immer noch hoch. Der Himmel war matt, verstaubte Zypressen standen aufgereiht in der grauen Ebene; nirgends war Schatten. Karin hatte Durst. Sie aß die Orange. Die Augen fielen ihr zu. Sie nickte ein, fuhr aber plötzlich hoch, als der Zug verlangsamte. Sie sah weiße Häuser und eine Platanenallee.
    »Entschuldigen Sie, wo sind wir?« fragte sie noch halb verschlafen den Alten.
    »In Arles!« röchelte dieser hinter seinem Taschentuch.
    Es blieb ihr gerade noch Zeit, die Orangenschalen verschwinden zu lassen und den Rucksack aufzuladen. Schon hielt der Zug! Schläfrig benommen blinzelte Karin auf den heißen Bahnsteig und suchte den Ausgang.
    »Karin!« Die Stimme ließ sie herumfahren. Ihr Rucksack schlug einem Mann ins Gesicht, der heftig zu fluchen anfing.
    »Was bin ich ungeschickt mit meinem Gepäck!« stieß Karin hervor und streckte Mireille die Hand entgegen, »aber das macht wohl die Hitze aus!«
    Mireille hatte sich nicht verändert, war nur noch dünner und sonnenverbrannter. Sie trug Jeans, ein weites Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und die üblichen Leinenschuhe.
    »Wie war die Reise?«
    »Ich bin eingedöst und wäre fast weitergefahren«, stammelte Karin.
    »Zug fahren schläfert ein«, bestätigte Mireille. »Einmal, als Alain nach Nizza zu Papa fuhr, wachte er erst eine Stunde später an der italienischen Grenze wieder auf!« Sie grinste. »Aber sag ihm nicht, daß ich es dir erzählt habe, das wurmt ihn heute noch!«
    »Ist Alain nicht da?«
    Mireille schüttelte den Kopf. »Der ist schon seit einer Woche bei Tante Justine. Inzwischen hatte ich meine Ruhe! Er ist nämlich ein Flegel!« fügte sie hinzu. Sie streckte die Hand nach dem Rucksack aus. »Komm, ich helfe dir.«
    »Nicht nötig, der ist ganz leicht«, log Karin.
    »Wir nehmen den Autobus.« Vor dem Ausgang packte sie plötzlich Karins Arm. »Schnell! Da kommt er schon!«
    Der stark besetzte Autobus hielt gerade gegenüber. Mireille benutzte die Ellbogen, um Karin auf einen der wenigen freien Plätze zu stoßen. Karin klemmte den Rucksack zwischen die Knie.
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