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Im Herzen der Wildnis - Roman

Im Herzen der Wildnis - Roman

Titel: Im Herzen der Wildnis - Roman
Autoren: Norah Sanders
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    Tief in Gedanken ließ das Mädchen das Buch sinken, um die Dame gegenüber zu betrachten. Das Cable Car auf seiner Fahrt durch die California Street hinunter zur San Francisco Bay schwankte und warf die Fahrgäste auf den Holzsitzen hin und her. Aber die Lady hielt sich sehr gerade. Die Beine unter dem langen Rock zusammengepresst, klammerte sie sich mit beiden Händen an einen kleinen, ein wenig abgestoßenen Koffer.
    Was für eine Anmut! Fasziniert schloss das Mädchen Henry James’ Porträt einer Dame und musterte die Lady. Das schöne Gesicht wurde von einem Trauerschleier verhüllt. Der schwarze Hauch, der die Augen verbarg, die vollen Lippen jedoch betonte, verlieh ihr eine besondere Würde. Oder war es gar nicht der Spitzenschleier, sondern ihre beherrschte Haltung, mit der sie sich gegen das Schlingern des Cars stemmte? Ihr Schweigen inmitten des munteren Geplappers rundum? Ihr leises Lächeln? Die Lady hatte Eleganz und Stil. Sie trug keinen Ring. Wie alt mochte sie sein – Ende zwanzig? Was mochte sie schon alles erlebt haben? Welche Erfahrungen hatten ihr Gesicht geformt, das von innen heraus zu leuchten schien?
    Nur mit Mühe bewahrte Shannon Tyrell ihre Haltung, während das Cable Car an diesem strahlend schönen Tag im Januar 1900 zum Hafen hinunterrumpelte. Die bewundernden Blicke des Mädchens waren ihr nicht entgangen. Als sie ihm freundlich zulächelte, sah es verlegen aus dem Fenster. Shannon folgte dem Blick. Der Himmel schimmerte wie ein bleicher Opal, die Wolken leuchteten wie Goldflitter. Die Luft duftete schon ein wenig nach Frühlingsblüten.
    Sie schloss die Augen und lauschte der Sinfonie von San Francisco. Dem Rattern des Cable Cars, dem Rasseln der Scheiben, dem Kreischen des Zugkabels, dem Donnern, Scheppern, Klappern und Quietschen der Fahrt hinunter zum Ferry Building. Der Wagen vibrierte dröhnend, als fiele er gleich auseinander. Wie lange hatte sie diese Melodie nicht mehr gehört?
    Vier Jahre Exil. Wie ein Flüchtling, der seine Familie und seine Heimat verließ, hatte sie erst zurückkehren wollen, wenn sich die Umstände geändert hatten. Doch dann hatte sie in Hawaii ein Telegramm ihres Vaters bekommen. Skip musste ihm verraten haben, wo sie sich aufhielt. Ihr Adoptivbruder war der Einzige, dem sie in all den Jahren geschrieben hatte. »Bitte komm nach Hause«, hatte ihr Vater sie gebeten. »Wir müssen reden.« Lange hatte sie gezögert, obwohl sie das Flehen, ja sogar die Bitte um Vergebung in seinen Worten sah. Dann hatte sie ihm telegrafiert: »Ich komme an Weihnachten nach Hause, Sir.«
    Vier Jahre Exil. Vier Jahre Selbstbestimmung und Freiheit. Sie hatte geglaubt, sie hätte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und ihr Leben in den Griff bekommen. Kein Blick zurück! Kein Bedauern! Keine Reue! Aber in San Francisco erwartete sie die Vergangenheit – in Gestalt ihrer Großmutter.
    Shannon gab sich ruhig und gelassen. Aber in ihrem Innersten war sie aufgewühlt, als sie sich ihr künftiges Leben vorstellte. Elegante Abendgesellschaften, prunkvolle Diners im Palace Hotel, Segeltörns in der Bay, Polospiele im Golden Gate Park, Bärenjagden im Yosemite Valley, Grillpartys in der Lodge in San Rafael. Immer dieselben Leute aus dem Geldadel von San Francisco und dieselben Gespräche über Gewinne aus dem Alaskahandel und aus den Investitionen in Eisenbahnen und Zuckerrohrplantagen.
    Sie atmete tief durch.
    Und Rob? Würde ihr künftiger Ehemann sich an diesem endlosen Kampf um noch mehr Geld, Prestige und Macht beteiligen? Nach Tom Conroys Worten während der Silvesterparty vor einigen Tagen war sein Sohn ein ganzer Kerl, hart wie die Opale, die er im australischen Outback fand. Ein Siegertyp eben. Ein millionenschwerer Sieger in einem verschwitzten, mit rotem Staub bedeckten Hemd und verwaschenen Jeans. So jedenfalls sah er auf dem Foto aus, das Tom ihr gezeigt hatte. Robs strahlendes Lächeln und Toms unverstellte Art versöhnten sie ein wenig mit der unvermeidlichen Heirat. Rob Conroy war immer noch besser als Lance Burnette, der Erbe eines Eisenbahntycoons aus New York, den sie mitsamt Verlobungsring hatte sitzen lassen. Der Brillant war bemerkenswert gewesen – im Gegensatz zu Lance.
    Rob also. Der charmante Aussie, der noch gar nicht wusste, dass er eine Yankee heiraten sollte, würde vermutlich genauso begeistert sein wie sie – nämlich gar nicht. Sollte er wider Erwarten dieser arrangierten Heirat zustimmen, was erwartete er dann von ihr? Die perfekte
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