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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
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je sagen hörte; es waren ihre seltsamsten Worte. In ihrer Stimme lag Verzweiflung. » Du wirst deine Mutter suchen. Trotz allem, was ich dir sagen könnte.«
    Der Schlaf zog mich mit sich. Ich hielt ihn ab und biss mir auf die Zunge. Mit einer großen Willensanstrengung betrat ich ein letztes Mal den Pfad der Seelen.
    Alles war idyllisch im Land der Toten. Der breite Fluss floss ruhig dahin, der Himmel leuchtete in seinem gleichförmigen grauen Licht, die Toten saßen da und starrten ins Nichts. Ich sah viele von Lord Soleks Männern in ihren zottigen Pelzen, die ruhig auf dem Boden saßen, ihre Gesichter leer und ihre Gewehre verstummt. Ich sah auch viele, viele Grüne. Einige waren in der ersten Schlacht mit den Blauen gestorben, derjenigen, die in den Wäschereien begonnen hatte und sich vor zwei Wochen durch den Palast gefressen hatte. Andere hatten die Seiten gewechselt, wie es manche Männer immer tun werden, und waren in der Schlacht am Scheiterhaufen gefallen. Zwischen ihnen verteilt saßen die neuen Soldaten aus Lord Roberts Armee, genauso ruhig. Aus der Nähe konnte ich erkennen, wie viele von ihnen Jungen oder alte Männer waren. Der verzweifelte Lord Robert hatte alle Soldaten genommen, die er bekommen konnte, sei es durch Zwang oder Bestechung oder – es war nicht ausgeschlossen – aufgrund ihrer Treue gegenüber Königin Caroline.
    Es gab keine Blauen unter den Toten. Ich war derjenige, der dafür verantwortlich war.
    In all der weiten, friedlichen Landschaft bewegte sich nur eine Gestalt. Sie rannte auf mich zu, ihr schönes Gesicht von Zorn und Trauer verzogen. » Roger! Wo bin ich?«
    » Ihr seid tot, Euer Gnaden.«
    Die Erinnerung überkam sie. » Ja. Ich wurde … ich wurde als Hexe verbrannt.«
    » Ja.« Und dann sagte ich die sinnlosesten Worte meines Lebens – die sinnlosesten Worte in jedermanns Leben, immer –, und diese Worte waren sowohl die Wahrheit als auch eine Lüge.
    » Es tut mir leid, Euer Gnaden.«
    Ihr Zorn fand ein Ziel. » Du hast das getan. Du.«
    » Ja.«
    » Du hast mir mein Königinnenreich genommen. Du hast mich verbrannt …«
    » Nein, Euer Gnaden. Ich habe viel getan, aber diese Dinge nicht. Die habt Ihr Euch selbst angetan.«
    Königin Caroline kreischte und stürzte sich auf mich. Aber sie war kein Soldat, und sie trug keine Waffen. Ich fing ihren um sich schlagenden Körper mit dem Arm ab. Und dann, einen Augenblick später, war ich zurück in dem geheimen Zimmer, das über die westliche Zugbrücke hinausblickte, und glitt in den Schlaf hinüber. Mutter Chilton war fort. Alles, was von meiner letzten Reise blieb, war die Berührung von Königin Carolines Körper, und wie sich dieser Körper beruhigte, still und reglos wurde.
    » Gehabt Euch wohl, Euer Gnaden«, hatte ich ihr zugeflüstert, kurz bevor ich zurückgekehrt war, aber ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt gehört hat. Sie war bereits von der unheimlichen Ruhe der Toten erfasst worden.

32
    Man sah uns nicht, Maggie und mich, als wir den Palast verließen. Maggie ging voraus, folgte den Anweisungen, die ihr Mutter Chilton gegeben hatte. Geheime Gänge brachten uns zu einer inneren Mauer, an der ein niedriger Eingang sich in Mutter Chiltons Zelt öffnete. Das Zelt war völlig leer. Fort waren die Tränke, die Federn, die Stoffbeutel mit Kräutern und die Stangen, von denen sie herabgehangen hatten, das Kohlebecken und der einzelne Stuhl. Der Durchgang vom Palast in das Zelt war so niedrig, dass Maggie und ich auf Händen und Knien hindurchkrabbeln mussten. Nachdem wir es getan hatten, schnappte der Stein wieder zu, und nichts, was wir taten, konnte ihn wieder öffnen.
    Das musste der Weg gewesen sein, auf dem Mutter Chilton Cecilia zur Flucht aus dem Palast verholfen hatte. Es musste auch der Weg gewesen sein, auf dem Mutter Chilton gekommen und gegangen war, wann immer die Königin sie zu sich bestellt hatte. Es hatte ein Band zwischen ihnen gegeben, etwas, das ich nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. » Caroline hat die Seelenkünste studiert, aber sie hat kein Talent«, hatte mir Mutter Chilton einmal erklärt. Deshalb hatte die Königin versucht, mein Talent zu benutzen.
    Maggie und ich blieben ein paar Tage lang in dem verlassenen Zelt, ich ruhte mich aus, während sie hinausging, um Nahrung und Auskünfte zu besorgen. An Essen kam man in den ersten Tagen gar nicht leicht. Das lag nicht daran, dass wir kein Geld hatten: Mutter Chilton hatte mir noch einmal einen Stapel Münzen
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