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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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mich hinunterzuschicken. Aber er sieht, daß ich aussehe wie eine Dame. Auf den Dächern von Kopenhagen begegnet man nicht so vielen Damen. Einen Augenblick lang zögert er also.
    »Wieso?«
    »Als Sie in dem Alter waren«, sage ich, »und Vater und Mutter noch nicht aus dem Kohlenbergwerk zurück waren und Sie allein auf dem Dach der Obdachlosenbaracke gespielt haben, – sind Sie da in gerader Linie die Dachkante entlanggelaufen?«
    Daran kaut er ein wenig.
    »Ich bin in Jütland aufgewachsen«, sagt er dann. Doch sein Blick läßt mich nicht los, während er das sagt. Dann dreht er sich zu seinem Kollegen um.
    »Wir brauchen Lampen hier oben. Und wenn du gleich noch die Dame und den Herrn runterbringen würdest.«
     
    Mir geht es mit der Einsamkeit wie anderen mit dem Segen der Kirche. Sie ist für mich ein Gnadenlicht. Ich mache nie hinter mir die Tür zu, ohne mir bewußt zu sein, daß ich damit für mich eine Tat der Barmherzigkeit vollbringe. Cantor veranschaulichte seinen Schülern den Unendlichkeitsbegriff, indem er erzählte, es sei einmal ein Mann gewesen, der ein Hotel mit einer unendlichen Zahl von Zimmern gehabt habe, und das Hotel sei voll belegt gewesen. Dann sei noch ein Gast gekommen. Der Wirt habe den Gast von Zimmer Nummer eins nach Nummer zwei, den von Nummer zwei nach Nummer drei, den von drei nach vier verlegt, und so fort. Damit sei das Zimmer Nummer eins für den neuen Gast frei geworden. Was mich an dieser Geschichte freut, ist die Tatsache, daß alle Beteiligten, die Gäste und der Wirt, es ganz in Ordnung finden, eine unendliche Anzahl von Operationen durchführen zu müssen, damit ein einzelner Gast in einem Zimmer für sich Ruhe und Frieden finden kann. Das ist eine große Verbeugung vor der Einsamkeit. Im übrigen weiß ich, daß ich meine Wohnung wie ein Hotelzimmer eingerichtet habe. Ohne den Eindruck vermeiden zu können, daß diejenige, die hier wohnt, sich auf der Durchreise befindet. Wenn ich mir das zuweilen selbst erklären muß, dann denke ich daran, daß die Familie meiner Mutter und auch sie selbst eine Art Nomaden waren. Als Entschuldigung ist das eine fadenscheinige Erklärung.
    Aber ich habe zwei große Fenster zum Wasser hin. Ich sehe die Holmenskirche, das Gebäude der Seeassekuranz und die Nationalbank, deren Marmorfassade heute abend die gleiche Farbe hat wie das Eis im Hafen.
    Ich habe mir gedacht, daß ich trauern will. Ich habe mit den Polizisten geredet, Juliane eine Schulter hingehalten, und sie zu Bekannten begleitet, dann bin ich zurückgekommen, und die ganze Zeit über habe ich die Trauer mit der linken Hand weggehalten. Jetzt muß ich wohl an der Reihe sein, jetzt muß ich unglücklich sein dürfen.
    Doch es ist noch nicht soweit. Die Trauer ist ein Geschenk, etwas, um das man sich verdient machen muß. Ich habe mir eine Tasse Pfefferminztee gemacht und mich ans Fenster gestellt. Aber es stellt sich nichts ein. Vielleicht, weil noch eine Winzigkeit zu tun bleibt, weil noch etwas unfertig ist und den Gefühlsprozeß bremsen kann.
    Ich trinke also meinen Tee, während der Verkehr auf der Knippelsbrücke spärlicher und zu vereinzelten roten Lichterstrichen in der Nacht wird. Allmählich überkommt mich eine Art Ruhe. Schließlich reicht es zum Einschlafen.

3
    An einem Tag im August vor anderthalb Jahren begegne ich Jesaja zum erstenmal. Eine bleierne und feuchte Hitze hat Kopenhagen in eine Brutstätte des unmittelbar drohenden Wahnsinns verwandelt. Ich habe in der typischen Druckkochtopfatmosphäre eines Busses gesessen, in einem neuen Kleid aus weißem Leinen, mit tiefem Rückenausschnitt und Valenciennevolants. Es hat lange gedauert, bis ich sie mit dem Dampfbügeleisen zum Stehen gebracht habe, in der allgemeinen Depression jedoch haben sie sich wieder gelegt.
    Es gibt Leute, die fahren in dieser Jahreszeit nach Süden. Runter in die Wärme. Ich persönlich bin nie südlicher als bis nach Køge gekommen. Ungefähr fünfzig Kilometer südlich von Kopenhagen. Und weiter werde ich auch nicht kommen, bis der Atomwinter Europa abgekühlt hat. Es ist so ein Tag, an dem man nach dem Sinn des Daseins fragen könnte und die Antwort bekommen würde, daß es keinen gibt. Und auf der Treppe, ein Stockwerk unter meiner Wohnung, kraucht irgend etwas herum.
    Als in den dreißiger Jahren allmählich die ersten größeren Ladungen von Grönländern nach Dänemark kamen, schrieben sie mit als erstes nach Hause, die Dänen seien Schweine, sie hielten Hunde im Haus. Einen
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