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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Flur zu einem Schild, an dem Professor steht und in kleineren Buchstaben J. Loyen . Unter dem Schild ist eine Tür, hinter der Tür eine Garderobe und dahinter ein kühles Büro mit zwei Sekretärinnen unter Fotoabzügen von Eisbergen auf blauem Wasser und in strahlender Sonne, dahinter fangt das richtige Büro an.
    Hier drinnen haben sie keinen Tennisplatz angelegt. Nicht, weil kein Platz wäre, sondern sicher, weil Loyen ein paar in seinem Garten in Hellerup und zwei weitere am Dünenweg in Skagen hat. Und weil es die gewichtige Feierlichkeit des Raumes beeinträchtigt hätte.
    Auf dem Fußboden liegt ein dicker Teppich, zwei Wände sind von Büchern bedeckt; Panoramafenster mit Aussicht über die Stadt und über den Fælledpark, ein in die Mauer eingelassener Safe, goldgerahmte Gemälde, ein Mikroskop über einem Lichttisch, eine Glasvitrine mit einer vergoldeten Maske, die aussieht, als käme sie aus einem ägyptischen Sarkophag, zwei Sofaecken, zwei abgeschaltete Bildschirme auf einem Sockel und noch immer so viel Platz, daß man, wenn man die Schreibtischhockerei satt hätte, einen Bürolaufmachen könnte.
    Der Schreibtisch ist eine große Mahagoniellipse, und von dorther erhebt er sich und kommt mir entgegen. Er ist zwei Meter groß und um die Siebzig, aufrecht, im weißen Kittel und sonnengebräunt wie ein Wüstenscheich, mit dem freundlichen Ausdruck von jemandem, der auf dem Kamel sitzt und zuvorkommend auf den Rest der Welt herabblickt, der unten im Sand vorbeikrabbelt.
    »Loyen.«
    Den Titel läßt er zwar weg, aber er klingt trotzdem mit. Der Titel und die Tatsache, die wir nicht vergessen dürfen, daß der Rest der Weltbevölkerung mindestens einen Kopf tiefer steht und es hier, unter seinen Füßen, jede Menge Ärzte gibt, die es nicht bis zum Professor gebracht haben; über seinem Kopf hat er nur die weiße Decke, den blauen Himmel und den lieben Gott, und vielleicht nicht einmal das.
    »Nehmen Sie Platz, gnädige Frau.«
    Er strahlt Zuvorkommenheit und Dominanz aus, und ich sollte glücklich sein. Andere Frauen vor mir sind glücklich gewesen, und viele andere werden es noch sein – kann man sich in den schweren Augenblicken des Lebens etwas Besseres zum Anlehnen wünschen als zwei Meter gutpolierte ärztliche Selbstsicherheit, und das auch noch in einer so geborgenen Umgebung wie hier?
    Auf dem Tisch steht eine gerahmte Fotografie der Arztgattin, des Airedaleterriers und von Vatis drei großen Jungs, die sicher Medizin studieren und in allen Prüfungen, einschließlich der klinischen Sexologie, eine Eins kriegen.
    Ich habe nie behauptet, ich sei vollkommen. Vor Menschen, die Macht haben, sie genießen und ausnutzen, werde ich ein anderer, minderwertigerer und schlechterer Mensch.
    Aber ich zeige es nicht. Ich setze mich auf die Stuhlkante und lege die dunklen Handschuhe und den Hut mit dem dunklen Schleier an den Rand der Mahagoniplatte. Professor Loyen hat, wie so oft, eine schwarze, trauernde, fragende, unsichere Frau vor sich.
    »Sie sind Grönländerin?«
    Dank seiner fachlichen Erfahrung sieht er das.
    »Meine Mutter kam aus Thule. Sie haben Jesaja...  untersucht?«
    Er winkt bestätigend.
    »Was ich gerne wissen möchte: Woran ist er gestorben?«
    Die Frage überrumpelt ihn etwas.
    »Am Sturz.«
    »Aber was heißt das, rein physisch?«
    Einen Moment lang denkt er nach, er ist es nicht gewöhnt, das Selbstverständliche formulieren zu müssen.
    »Er ist schließlich vom sechsten Stockwerk gefallen. Der Organismus als Ganzes bricht ganz einfach zusammen.«
    »Aber er hat irgendwie so unbeschädigt ausgesehen.«
    »Das ist bei Sturzunfällen normal, meine Liebe. Aber...«
    Ich weiß, was er sagen will. ›Nur, bis wir sie aufmachen. Dann ist alles nur noch Knochensplitter und innere Blutungen.‹
    »Aber sie sind es nicht«, vollendet er.
    Er richtet sich auf. Er hat anderes zu tun. Das Gespräch nähert sich seinem Ende, ohne in Gang gekommen zu sein. Wie so viele Gespräche zuvor und danach.
    »Hat es Spuren von Gewaltanwendung gegeben?«
    Ich überrasche ihn nicht. In seinem Alter und seinem Beruf läßt man sich nicht so leicht überraschen.
    »Nicht die geringste«, sagt er.
    Ich bleibe ganz still sitzen. Es ist immer interessant, Europäer der Stille zu überlassen. Für sie ist sie eine Leere, in der die Spannung steigt und ins Unerträgliche wächst.
    »Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?«
    ›Meine Liebe ‹ hat er jetzt gestrichen. Ich überhöre die Frage.
    »Wieso sind dieses
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