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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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ist. So ist der Spitzname für uns, die hier wohnen; das ist zwar verletzend, im großen und ganzen aber korrekt.
     
    Es gibt Gründe dafür, hier einzuziehen, und Gründe, hier auch wohnen zu bleiben. Mit der Zeit ist das Wasser für mich wichtig geworden. Der Weiße Schnitt liegt direkt am Kopenhagener Hafen. In diesem Winter konnte ich sehen, wie sich das Eis bildete.
    Der Frost setzte im November ein. Ich habe Respekt vor dem dänischen Winter. Die Kälte – nicht die meßbare, die auf dem Thermometer, sondern die erlebte – hängt mehr von der Windstärke und vom Feuchtigkeitsgrad der Luft ab als davon, wie kalt es ist. Ich habe in Dänemark mehr gefroren als je in Thule. Sobald die ersten klammen Regenschauer mir und dem November ein nasses Handtuch ins Gesicht peitschen, begegne ich ihnen mit pelzgefütterten Capucines, schwarzen Alpakaleggings, langem Schottenrock, Pullover und einem Cape aus schwarzem Goretex.
    Dann fällt die Temperatur allmählich. Irgendwann hat die Meeresoberfläche minus 1,8 Grad Celsius, die ersten Kristalle bilden sich, eine kurzlebige Haut, die der Wind und die Wellen zu frazil Eis zerschlagen, das zu dem seifigen Mus verknetet wird, das man Breieis, grease ice , nennt; es bildet allmählich freitreibende Platten, pancake ice , das dann an einem Sonntag in einer kalten Mittagsstunde zu einer zusammenhängenden Schicht gefriert.
    Es wird kälter, und ich freue mich, denn ich weiß, daß der Frost jetzt zugelegt hat, das Eis bleibt liegen, und die Kristalle haben Brücken gebildet und das Salzwasser in Hohlräumen eingekapselt, die eine Struktur haben wie die Adern eines Baumes, durch die langsam die Flüssigkeit hindurchsickert; daran denkt kaum jemand, der zur Marineinsel Holmen hinüberschaut, es ist aber ein Argument für die Ansicht, daß Eis und Leben auf mehrfache Weise zusammenhängen.
    Wenn ich auf die Knippelsbrücke komme, ist das Eis normalerweise das erste, wonach ich Ausschau halte. An diesem Tag im Dezember aber sehe ich etwas anderes. Ich sehe das Licht.
    Es ist gelb, wie das meiste Licht in einer Winterstadt; es hat geschneit, und deshalb hat es, auch wenn es nur ein zartes Licht ist, einen starken Widerschein. Es scheint unten bei einem der Packhäuser, den Speichern, die sie, als sie unsere Wohnblocks bauten, in einem schwachen Moment beschlossen haben stehenzulassen. Auf der Giebelseite, zur Strandgade und nach Christianshavn zu, rotiert das Blaulicht eines Streifenwagens. Ich sehe einen Polizisten, Die provisorische Absperrung aus weiß-roten Plastikbändern. Das, was dort abgesperrt ist, kann ich als kleinen dunklen Schatten auf dem Schnee ausmachen.
    Weil ich renne und es erst gut fünf Uhr und der Nachmittagsverkehr noch nicht vorbei ist, schaffe ich es, einige Minuten vor dem Krankenwagen dort zu sein.
    Jesaja liegt mit angezogenen Beinen da, das Gesicht im Schnee und die Hände um den Kopf, als wollte er sich gegen den kleinen Scheinwerfer, der ihn beleuchtet, abschirmen, als sei der Schnee ein Fenster, durch das er tief unter der Erde etwas gesehen hat.
    Der Polizist müßte mich sicher fragen, wer ich bin, meinen Namen und meine Adresse aufnehmen und überhaupt die Arbeit der Kollegen vorbereiten, die jetzt bald von Haus zu Haus gehen und klingeln müssen. Aber er ist ein junger Mann mit einem kranken Ausdruck in den Augen. Er vermeidet es, Jesaja direkt anzuschauen. Als er sich vergewissert hat, daß ich sein Absperrband nicht übertrete, läßt er mich stehen.
    Er hätte ein größeres Stück absperren können. Doch das hätte keinen Unterschied gemacht. Die Packhäuser werden teilweise umgebaut. Menschen und Maschinen haben den Schnee hartgetrampelt wie einen Terrazzoboden.
    Selbst im Tod hat Jesaja etwas Abgewandtes, als wollte er von Mitleid nichts wissen.
    Hoch oben, außerhalb des Scheinwerferlichts, ahnt man einen Dachfirst. Das Packhaus ist hoch, sicher so hoch wie ein sieben- oder achtstöckiges Wohnhaus. Das angrenzende Haus wird umgebaut. An der Giebelseite, die auf die Strandgade hinausgeht, steht ein Gerüst. Dort gehe ich hin, während sich der Krankenwagen über die Brücke arbeitet und dann zwischen den Gebäuden durchwindet.
    Das Gerüst deckt die Giebelseite bis zum Dach hinauf ein. Die untere Leiter ist heruntergeklappt. Die Konstruktion scheint immer zerbrechlicher zu werden, je höher man kommt.
    Sie bauen ein neues Dach. Über mir türmen sich die dreieckigen Dachsparren. Sie sind mit einer Persenning zugedeckt, die über die halbe
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