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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Büro und diese Institution eigentlich nicht in Grönland?« frage ich.
    »Das Institut ist erst drei Jahre alt. Vorher hat es keine Obduzentur für Grönland gegeben. Die Staatsanwaltschaft in Godthåb benachrichtigte gegebenenfalls das Gerichtsmedizinische Institut in Kopenhagen. Diese Stelle hier ist neu und zeitlich begrenzt. Das Ganze soll im Laufe des nächsten Jahres nach Godthåb verlegt werden.«
    »Und Sie?« sage ich.
    Er ist es nicht gewöhnt, verhört zu werden, gleich wird er aufhören zu antworten.
    »Ich leite das Institut für Arktische Medizin. Ursprünglich bin ich jedoch Gerichtspathologe. In dieser Etablierungsphase fungiere ich als amtierender Leiter der Obduzentur.«
    »Führen Sie alle gerichtsmedizinischen Obduktionen an Grönländern durch?«
    Ich habe blind zugeschlagen. Aber es muß ein harter, flacher Ball gewesen sein, denn jetzt zucken seine Lider.
    »Nein«, erwidert er und spricht nun sehr langsam, »aber ab und zu helfe ich der dänischen Staatsobduzentur. Sie haben jedes Jahr Tausende von Fällen aus dem ganzen Land.«
    Ich denke an Jean Pierre Lagermann.
    »Haben Sie die Obduktion allein gemacht?«
    »Wir folgen, außer in ganz speziellen Fällen, einer festen Routine. Ein Arzt arbeitet mit einem Laborangestellten und manchmal auch mit einer Krankenschwester.«
    »Kann man den Obduktionsbericht einsehen?«
    »Sie würden ihn sowieso nicht verstehen. Und was Sie verstehen könnten, würden Sie nicht mögen!«
    Einen kurzen Moment lang hat er die Selbstbeherrschung verloren. Sie ist jedoch sofort wieder da.
    »Diese Berichte gehören der Polizei, die die Obduktionen offiziell bestellt. Und im übrigen auch bestimmt, wann,die Beerdigung stattfinden kann, da sie die Totenscheine unterschreibt. Das Gesetz über die Öffentlichkeit der Verwaltung gilt für zivilrechtliche Angelegenheiten, nicht für strafrechtliche.«
    Er ist mittendrin im Match und ganz vorn am Netz. Seine Stimme nimmt einen beruhigenden Klang an. »Sie müssen schon verstehen, in einem Fall wie diesem, wo auch nur der geringste Zweifel an den Umständen des Unglücks aufkommen kann, ist die Polizei und sind wir an einem möglichst gründlichen Gutachten interessiert. Wir untersuchen alles. Und wir finden alles. In den Fällen, in denen jemandem etwas angetan worden ist, ist es so gut wie unmöglich, keine Spuren zu hinterlassen. Es gibt Fingerabdrücke, zerrissene Kleidung, das Kind verteidigt sich und hat Hautzellen unter den Nägeln. In diesem Fall nichts von alldem. Nichts.«
    Das war der Satz- und Matchball. Ich erhebe mich und ziehe die Handschuhe an. Er lehnt sich zurück.
    »Selbstverständlich sehen wir den Polizeibericht«, sagt er. »Aus den Spuren ging ja deutlich hervor, daß er allein auf dem Dach war, als es passierte.«
    Ich wandere den langen Weg bis in die Mitte des Zimmers, und von dort aus schaue ich zu ihm zurück. Irgend etwas hatte ich zu fassen gekriegt, ich weiß nur nicht, was. Doch jetzt sitzt er wieder auf dem Kamel.
    »Rufen Sie ruhig wieder an, gnädige Frau.«
    Es dauert einen Augenblick, bis sich der Schwindel gelegt hat.
    »Wir haben«, sage ich, »alle unsere Phobien. Irgend etwas, wovor wir richtig Angst haben. Ich habe meine, und Sie haben sicher auch Ihre, wenn Sie den schußsicheren Kittel ausziehen. Wissen Sie, was Jesajas Phobie war? Die Höhe. Er hüpfte bis zum ersten Stock, und von da ab kroch er, mit geschlossenen Augen und beiden Händen am Geländer. Stellen Sie sich das vor, jeden Tag, die Innentreppe hoch, Schweiß auf der Stirn, Wackelpudding in den Knien, fünf Minuten vom ersten bis zum dritten Stock. Seine Mutter hatte schon, bevor sie überhaupt eingezogen waren, darum gebeten, nach unten ziehen zu dürfen. Aber Sie wissen ja – wenn man Grönländer ist und Sozialhilfeempfänger . . .«
    Es dauert geraume Zeit, bis er antwortet.
    »Nichtsdestoweniger ist er dort oben gewesen.«
    »Ja«, sage ich, »das ist er wohl. Aber sehen Sie, Sie hätten mit einem Wagenheber kommen können. Oder auch mit unserem berühmten Schwimmkran Herkules, und Sie hätten ihn trotzdem keinen Meter auf das Gerüst gebracht. Was mich wundert, was ich mich in den schlaflosen Nächten frage, ist, was ihn bei dieser Gelegenheit dahinauf gebracht hat.«
    Noch immer sehe ich seine kleine Gestalt unten im Keller liegen. Ich schaue Loyen nicht einmal an. Ich gehe einfach.

5
    Juliane Christiansen, die Mutter von Jesaja, ist eine warme Empfehlung für die heilsame Wirkung des Alkohols. Wenn sie
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