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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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mich nicht erkannt. Glaubte, ich sei ein Fremder. Es war dunkel.«
    Er entfernt eine Sicherung. Der Mechaniker sieht die Waffe nicht, er sieht in Tørks Gesicht.
    »Wir kommen auf das Dach. Er sieht mich nicht.«
    »Die Spuren«, lüge ich. »Ich habe die Spuren gesehen, er hat sich umgedreht.«
    »Ich habe ihn gerufen, er drehte sich um, aber er hat mich nicht gesehen.«
    Er sieht mir in die Augen.
    »Schwerhörig«, sage ich. »Er war schwerhörig. Er hat sich nicht umgedreht, er konnte nichts hören.«
    Unter mir ist Eis, ich bin auf dem Weg über das Eis, zu ihm, so wie Jesaja auf dem Weg weg von ihm war. Es ist, als sei ich Jesaja. Doch nun auf dem Weg zurück. Um etwas noch einmal zu tun. Um auszuprobieren, ob es eine andere Möglichkeit geben sollte.
    Lukas ist fünf Meter von Tørk entfernt, als der ihn sieht. Er hat den anderen Weg um den Stein herum genommen. Tørk hat seine Aufmerksamkeit zwischen mir und dem Mechaniker geteilt. Man kann nicht alles schaffen. Selbst er kann nicht alles schaffen.
    »Bernard ist tot«, sagt Lukas.
    Er hat die Harpune vor sich. Er muß sie wieder geladen haben. Sie wirkt lang wie eine Lanze, einen Augenblick lang gleicht er mit seiner viel zu geraden und ausgemergelten Gestalt einer Zeichentrickfigur. Seine Hosen sind zu einem Eispanzer gefroren. Auf dem Weg zur Küste muß er eingebrochen sein.
    »Du wirst verantwortlich gemacht«, sagt er.
    Tørks Regenschirm ruckt. Eine große, unsichtbare Hand wirbelt Lukas auf der Stelle herum. Danach kommt der flache Knall, und Lukas hat eine Pirouette beschrieben. Sein Gesicht ist uns wieder zugekehrt, doch jetzt fehlt ihm der linke Arm. Er setzt sich auf das Eis und fängt an zu bluten.
    Nun bewegt sich der Mechaniker. Weil er aus dem Wasser kommt, sieht er einen kurzen Moment aus wie ein großer Fisch, der über Land springt. Der Regenschirm klirrt über das Eis. Selbst ohne ihn hat Tørks hochaufgerichtete Gestalt eine große Selbstsicherheit.
    Der Mechaniker erreicht ihn. Der eine gelbe Fausthandschuh liegt auf Tørks Schulter, der andere preßt sich um seinen Kiefer. Dann drückt er zu. Als das Gesicht unter dem blonden Haar nach hinten fällt, beugt er den Helm darüber, sie sehen einander in die Augen. Ich erwarte ein Geräusch von Rückenwirbeln, die auseinandergerissen werden. Der Peitschenhieb wird nicht klingen wie etwas, das bricht, sondern wie etwas, das einrastet.
    Tørk tritt zu, eine geschulte Bewegung, die von unten kommt und sich halbkreisförmig auf das Gesicht des Mechanikers zubewegt. Er trifft die Seite des Helmes mit einem Ton, wie wenn sich ein Beil in einen Baumstumpf gräbt. Langsam kentert die ganze gelbe Gestalt, wankt zur Seite und geht in die Knie. Der Regenschirm vor mir auf dem Eis. So groß ist meine Furcht vor Waffen, daß ich ihm noch nicht einmal einen Tritt versetze.
    Der Mechaniker richtet sich auf. Er beginnt seine Flaschen abzustreifen. Die Bewegungen sind schwerelos langsam, wie die eines Astronauten.
    Da läuft Tørk los. Ich folge ihm.
    Er kann die anderen dazu zwingen abzufahren. Sie würden es nicht gern tun. Vor allem Sonne würde es nicht gern tun. Aber er kann sie dazu bringen.
    Er läuft den Eisbruch hinunter. Seine Lampe flackert, hier ist es dunkel. In Qaanaaq ging ich nachts auf das Eis, um Schmelzwasserblöcke zu holen. Das Eis hat sein eigenes nächtliches Entgegenkommen. Ich habe jetzt keine Lampe, aber ich laufe wie auf einer geraden Straße. Nicht mühelos, aber sicher. Meine Kamiken greifen im Schnee ganz anders als seine Stiefel. Bei ihm braucht es nicht viel. Eine einzige Unaufmerksamkeit, und er fällt, wie Jesaja gefallen ist.
    Wo der Schnee liegengeblieben ist, bilden die weißen Felder in der Dunkelheit Sechsecke. Wir laufen durch das Universum.
    Ich verlasse die Gletscherkante vor ihm und laufe nach unten.
    Ich will ihn vom Motorboot abschneiden. Er hat mich nicht gesehen und nicht gehört. Trotzdem weiß er, daß ich hier bin.
    Das Eis ist hikuliaq , Neueis, das sich gebildet hat, wo das alte Eis hinausgetrieben ist. Es ist zu dick, um mit dem Motorboot durchfahren zu können, und zu dünn, um darauf zu gehen. Darüber steht, schleiernd, weißer Frostnebel.
    Er sieht mich, oder vielleicht sieht er auch nur, daß da eine Gestalt steht, und läuft auf das Eis hinaus. Ich folge ihm in einer Richtung, die parallel zu der seinen verläuft. Er sieht, wer ich bin. Er merkt, daß er nicht genügend überschüssige Kraft hat, um mich zu erreichen.
    Die Kronos ist im Nebel
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