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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Tag, als er das gesagt hatte, endete der Krieg.«
    Ich bin schon fast aus der Tür, als er erneut spricht.
    »Der Mensch ist der Parasit. Der Wurm ist das Werkzeug der Götter. Wie der Mohn.«

3
    Tørk wartet auf mich. Als wir die Sohle erreichen, sind wir ungefähr zwanzig Meter abgestiegen. Der Tunnel verläuft jetzt waagerecht und hat eine grobe, viereckige Betonversteifung. Sie endet in einer schwarzen Leere. Tørk geht voran, wir bleiben an einem Abgrund stehen.
    Zu unseren Füßen fällt der Boden fünfundzwanzig Meter bis zum Grund der Höhle ab. Von dort unten wachsen Tropfsteine aus Eis senkrecht aus der Erde empor und uns entgegen, glitzernd, regenbogenfarbig.
    Er bricht ein Stück Eis ab und wirft es in den Raum. Der Abgrund wird zu Kreisen und danach zu Nebel und hört dann auf zu existieren. Was wir gesehen haben, ist die Decke der Höhle, die sich zu unseren Füßen in einem See mit einer so stillen Oberfläche spiegelt, wie sie an der Erdoberfläche nie vorkommen könnte. Selbst als sie von Wellensystemen durchlaufen wird, wollen die Augen nicht begreifen, daß es Wasser ist. Langsam kommt es zur Ruhe, die Ordnung dieser unterirdischen Welt ist wiederhergestellt.
    Wachstumsmodelle und Kristallbeschreibungen der Eiszapfen sind von Hatakeyama und Nemoto im Geophysical Magazine , 28, 1958 veröffentlicht worden. Von Knight 1980 im Journal of Crystal Growth , 49. Von Maeno und Takahashi in ›Studies on Icicles‹, Low Temperature Science , A, 43, 1984. Doch das vorläufig brauchbarste Modell ist von mir und von Lasse Makkonen vom Laboratorium für Bautechnik in Espoo in Finnland vorgeschlagen worden. Es zeigt, daß ein Eiszapfen wie ein Rohr wächst, es ist ein Hohlraum aus Eis, der sich um flüssiges Wasser schließt. Daß sich die Masse des Eiszapfens einfach durch
     
    M = (Pi * D 2 /4) Q a L
     
    ausdrücken läßt, wobei D der Durchmesser, L die Länge, Q a die Dichte des Eises ist und das Pi über dem Bruchstrich natürlich daher kommt, daß wir mit einem hemisphärischen Tropfen gerechnet haben, dessen Durchmesser auf 4,9 Millimeter festgesetzt ist.
    Wir stellten unsere Formel aus Furcht vor dem Eis auf. Nachdem in Japan eine Reihe von Unfällen mit Eiszapfen passiert waren, die in Eisenbahntunneln abgestürzt waren und die Zugwagen durchbohrt hatten.
    Über unseren Köpfen hängen die meisten und die größten Eiszapfen, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Instinktiv will ich zurücklaufen, spüre aber Tørk und gebe den Versuch auf.
    Der Raum ist eine Kathedrale. Über uns erhebt sich ein Gewölbe, das mindestens fünfzehn Meter hoch sein und bis in die Nähe der Oberfläche des Gletschers reichen muß. Um die Kuppel, wo es eingestürzt ist, hat es Bruchflächen; dort hat das Eis den Boden bedeckt und die Grotte gefüllt und ist danach wieder weggeschmolzen.
    Zu Zeiten, wenn Moritz weg war, wenn wir uns kein Petroleum leisten konnten, oder in kurzen Phasen des Mangels, wenn das Schiff nicht durchgekommen war, stellte meine Mutter Paraffinkerzen auf einen Spiegel. Selbst mit wenigen Kerzen war der Effekt überwältigend. Dasselbe passiert mit dem Kegel von Tørks Stirnlampe. Er hält sie still, um mir Zeit zu lassen. Das Licht wird vom Eis vervielfacht, vergrößert und wie ein aufsteigender Strahlenregen in die Kuppel hinaufgeworfen.
    Die langen Eisspieße scheinen zu schwimmen. Prismatisch glitzernd tropfen sie von der Decke und strecken sich zur Erde. Vielleicht sind es zehntausend, vielleicht mehr. Einige davon hängen zusammen wie Ketten aus herabhängenden gotischen Kathedralen, andere sind ganz kurz und sitzen dicht bei dicht. Nadelkissen aus Bergkristall.
    Darunter der See. Vielleicht dreißig Meter im Durchmesser. In der Mitte liegt der Stein. Schwarz, ohne Bewegung. Das Wasser um ihn herum ist von den in Gletschereis aufgelösten Blasen leicht milchig. Der Raum hat kein anderes Aroma als das leichte Kratzendes Eises im Rachen. Die einzigen Geräusche machen die Tropfen, die fallen. In langen Zeitintervallen. Der Abstand zwischen Decke und Stein gibt dem Raum eine Art Gleichgewicht. Es friert und schmilzt nur wenig. Der Wasserumsatz ist minimal. Der Ort ist leblos.
    Wenn nicht die Wärme gewesen wäre. Sie ist genau wie die Wärme in der Schneehöhle meiner Kindheit. Die Strahlungskälte der Wände läßt sie einladend wirken. Obgleich die Temperatur zwischen null und fünf Grad liegt.
    Neben uns liegt ein Teil Gepäck. Luftflaschen, Anzüge, Flossen, Harpunen, Kisten mit
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