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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Plastiksprengstoff. Taue, Lampen, Handwerkszeug. Außer uns ist hier kein Mensch. Einmal nur arbeitet das Eis knirschend, als verschiebe jemand in einem Nebenzimmer ein schweres Möbelstück. Doch es gibt keine Nebenzimmer. Es gibt nur kompaktes, zusammengepreßtes Eis.
    »Wie bringt ihr ihn raus?«
    »Wir sprengen einen Tunnel«, sagt er.
    Das ist machbar. Er muß vielleicht hundert Meter lang sein. Aber sie werden ihn nicht zu versteifen brauchen. Und der Stein wird von selbst durch den Tunnel rollen, wenn der das richtige Gefalle hat. Das wird Seidenfaden schon schaffen. Katja Claussen wird ihn zwingen. Und Tørk wird sie und den Mechaniker zwingen. So habe ich die Welt erlebt, seit ich Grönland verlassen habe. Als eine Kette aus Zwängen.
    »Lebt er?« fragt er still.
    Ich schüttele den Kopf. Aber nur, weil ich es nicht glauben will. Er faltet die Hände um die Lampe. Ihr Kegel ist jetzt auf den Schnee unter uns gerichtet. Von dort wird er nach oben geworfen. Deshalb sind jetzt nicht mehr die einzelnen Eiszapfen zu sehen, sondern eine Wolke aus schwebenden Reflexen, Edelsteine ohne Schwere.
    »Was passiert, wenn der Wurm entwischt?«
    »Wir werden den Stein einkapseln.«
    »Ihr könnt den Wurm nicht festhalten. Er ist mikroskopisch klein.«
    Er antwortet nicht.
    »Ihr könnt es nicht wirklich wissen«, sage ich. »Niemand kann es wissen. Ihr wißt über ihn nur, was ihr aus ein paar kleinen Laborversuchen gelernt habt. Aber es besteht die schwache Möglichkeit, daß er ein wirklicher Killer ist.«
    Er antwortet nicht.
    »Was war die zweite Antwort auf die Frage, weshalb er sich nicht überall verbreitet hat?«
    »Als Kind habe ich ein Jahr in Grönland verbracht, an der Westküste. Dort habe ich Fossilien gesammelt. Seitdem kreisen meine Gedanken ab und zu um die Möglichkeit, daß einige der großen, prähistorischen Ausrottungen von Leben durch einen Parasiten verursacht worden sein könnten. Wer weiß, vielleicht durch den Polarwurm. Er hätte die notwendigen Eigenschaften. Der Wurm kann die Dinosaurier ausgerottet haben.«
    Seine Stimme ist scherzhaft, mit einem Mal verstehe ich ihn.
    »Aber das ist nicht wichtig, oder?«
    »Nein, es ist nicht wichtig.«
    Er sieht mich an.
    »Es ist nicht wichtig, wie sich die Dinge wirklich verhalten. Wichtig ist, was Menschen glauben. Sie werden an diesen Stein glauben. Hast du schon mal von Ilya Prigogine gehört? Belgischer Chemiker, hat 1977 für seine Beschreibung dissipativer Strukturen den Nobelpreis erhalten. Er und seine Schüler kreisten ununterbrochen um die Idee, daß das Leben aus anorganischen Stoffen entstanden sein könnte, die von Energie durchströmt wurden. Diese Idee hat den Weg gebahnt. Die Menschen warten auf diesen Stein. Ihr Glaube und ihre Erwartung werden ihn wirklich machen. Werden ihn lebendig machen, gleichgültig, welche Bewandtnis es tatsächlich mit ihm hat.«
    »Und der Parasit?«
    »Ich höre bereits die erste Garde der spekulativen Journalisten. Sie werden schreiben, der Polarwurm repräsentiere ein signifikantes Stadium in der Begegnung zwischen dem Stein, dem anorganischen Leben und den höheren Organismen. Sie werden alle möglichen Schlußfolgerungen ziehen, die jede für sich genommen unwichtig sind. Das Wichtige sind die Kräfte aus Furcht und Hoffnung, die damit freigesetzt werden.«
    »Warum, Tørk? Was willst du damit?«
    »Geld«, sagt er. »Berühmtheit. Mehr Geld. In Wirklichkeit ist es unwesentlich, ob er lebt. Was zählt, ist allein seine Größe. Die Wärme. Der Wurm darum herum. Er ist die größte naturwissenschaftliche Sensation des Jahrhunderts. Keine Zahlen auf einem Stück Papier. Keine Abstraktionen, für die man dreißig Jahre braucht, um sie in einer Form zu veröffentlichen, die man der Öffentlichkeit auch verkaufen kann. Ein Stein. Etwas Handgreifliches. Von dem man Stücke abschneiden und sie verkaufen kann. Von dem man Bilder und Filme machen kann.«
    Wieder denke ich an Victor Halkenhvads Brief. ›Der Junge war wie Eis.‹ Das stimmt nicht ganz. Die Kälte ist nur oberflächlich. Dahinter ist Leidenschaft. Eine kranke, verzerrte Machtgier. Plötzlich ist es auch für mich nicht mehr wichtig, ob der Stein lebt. Plötzlich ist er ein Symbol. Um ihn kristallisiert sich in diesem Augenblick die Haltung, die die westliche Naturwissenschaft zur Welt um sich herum einnimmt. Die Berechnung, der Haß, die Hoffnung, die Angst, der Versuch zu instrumentalisieren. Und über allem anderen, stärker als irgendein Gefühl
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