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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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seiner Lampe fängt den Stein ein und wirft dessen Schatten an die Wand vor mir. Als ich in den Tunnel komme, wird es dunkler. Es ist ein viereckiger, waagerechter Schacht, zwei Meter in alle Richtungen. Nach einigen Metern erweitert sich der Tunnel, und dort steht ein Tisch. Auf der Tischplatte Meßapparate, Milchflaschen, getrocknetes Fleisch, Haferflocken, alles achtundzwanzig Jahre alt und eisbedeckt.
    Ich lasse die Augen sich an das schwache Licht des Eises gewöhnen und gehe weiter, bis alles schwarz ist, und selbst dann noch gehe ich weiter, folge mit ausgestreckter Hand der Wand. Der Tunnel hat eine schwache Steigung, doch kein Luftzug deutet darauf hin, daß vor mir ein Ausgang sein könnte, es ist eine Sackgasse. Vor mir eine Wand, eine Mauer aus Eis. Hier warte ich.
    Dann: kein Geräusch von Schritten, aber ein Licht, erst weit weg, dann näher. Er hat die Lampe an der Stirn befestigt. Die Lampe fängt mich an der Mauer, und das Licht wird unbeweglich. Dann legt er sie ab. Es ist Verlaine.
    »Ich habe Lukas den Kühlschrank gezeigt«, sage ich. »Wenn das zu Jakkelsen dazukommt, kriegst du lebenslänglich, ohne Möglichkeit, begnadigt zu werden.«
    In der Mitte zwischen mir und dem Licht bleibt er stehen.
    »Auch wenn man dir Arme und Beine ausreißen würde«, sagt er, »würdest du noch irgendwie treten.«
    Er senkt den Kopf und spricht mit sich selber, es klingt wie ein Gebet. Danach tritt er zu mir hin.
    Erst glaube ich, es sei nur sein Schatten an der Wand, doch dann sehe ich genauer hin. Auf dem Eis erblüht eine Rose, vielleicht drei Meter im Durchmesser, sie ist mit kleinen, roten Punkten gemalt, die an die Wand gespritzt sind. Dann hebt er seine Füße vom Boden ab, breitet die Arme aus, steigt einen halben Meter und wirft sich gegen die Wand. Er bleibt hängen wie ein großes Insekt in der Mitte der Blüte. Erst dann kommt das Geräusch. Ein kurzes Zischen. In das Licht aus der Lampe auf dem Boden treibt eine graue Wolke. Aus der Wolke kommt Lukas. Er sieht mich nicht an. Er sieht Verlaine an. In der Hand hält er eine Druckluftharpune.
    Verlaine bewegt sich. Mit einer Hand tastet er seinen Rücken ab. Irgendwo unterhalb des Schulterblatts kommt ein schwacher, schwarzer Strich heraus. Das Metall muß eine besondere Legierung sein, wenn es ihn vom Boden weghalten kann. Die Harpunenspitze ist keine anderthalb Meter von ihm entfernt gewesen, als Lukas abgedrückt hat. Sie ist ungefähr da eingedrungen, wo Jakkelsen niedergestochen wurde.
    Ich trete aus dem Licht heraus und gehe an Lukas vorbei. Ich gehe einer aufgehenden, weißen Lichtsonne entgegen. Als ich aus den Tunnelwänden herauskomme, sehe ich, daß jetzt eine auf ein Stativ aufmontierte Lampe brennt. Sie müssen den Generator angelassen haben. Neben der Lampe steht Tørk. Der Mechaniker steht bis zu den Knien im Wasser. Es dauert einen Augenblick, bis ich ihn erkenne. Er trägt einen großen, gelben Anzug, feste Stiefel und einen Helm. Ich bin halb bei ihnen, als Tørk mich sieht. Er bückt sich. Aus dem Gepäck holt er ein Rohr von der Größe eines zusammengerollten Regenschirms. Der Mechaniker schaut auf das Wasser. Der Helm wird ihn daran hindern, mich zu hören. Ich nehme meinen Kompaß und werfe ihn ins Wasser. Er hebt den Kopf und sieht mich. Dann fängt er an, seinen Helm abzunehmen. Tørk arbeitet an dem Regenschirm. Klappt einen Kolben auf.
    »S-Smilla.«
    Ich gehe weiter. Hinter mir, im Resonanzrohr des Tunnels, hallen Schritte.
    »W-wir t-tauchen nur dieses eine Mal. Das ist für die Arbeit morgen notwendig.«
    »Für dich und mich gibt es kein Morgen«, sage ich. »Frag ihn, wo Verlaine ist.«
    Der Mechaniker dreht sich zu Tørk um. Sieht und versteht.
    »Der Junge«, sage ich, »weshalb?«
    Ich frage um des Mechanikers willen und um die Zeit anzuhalten, nicht, weil ich eine Antwort brauche. Ich weiß, was geschehen ist, ich weiß es so sicher, als wenn ich selbst mit auf dem Dach gewesen wäre.
    Ich spüre Tørk, als sei er ein Teil von mir. Durch ihn spüre ich die Katastrophe. Die vielen Bälle, mit denen er spielt. Die Frage, wieweit er ohne den Mechaniker zurechtkommt. Die Notwendigkeit, einen Entschluß treffen zu müssen. Trotzdem ist seine Stimme ruhig, fast traurig.
    »Er ist gesprungen.«
    Ich gehe weiter, während ich spreche. Er bringt senkrecht auf dem Lauf ein langes Magazin an.
    »Die Panik hat ihn gepackt.«
    »Wie?« sage ich.
    »Ich wollte ihn bitten, mir die Kassette zu geben. Aber er rannte weg, er hatte
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