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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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von weitem. Doch wenn er kam, dann gern beim Einbruch der Dunkelheit, wenn der Tag vorbei und Juliane sinnlos betrunken war.
    Ab und zu steckte ich ihn in die Badewanne. Er mochte heißes Wasser nicht. Mit kaltem konnte man ihn aber nicht sauber kriegen. Ich stellte ihn in die Badewanne und drehte die Dusche auf. Er protestierte nicht. Er hatte es längst gelernt, sich mit Widerwärtigkeiten abzufinden. Doch nicht einen Moment lang wandte er seinen vorwurfsvollen Blick von meinem Gesicht ab.

4
    In meinem Leben kommen einige Internate vor. Ich arbeite täglich daran, das zu verdrängen, und über lange Zeiträume hinweg gelingt es mir sogar. Nur momentweise schafft es vielleicht eine vereinzelte Erinnerung, sich ans Licht hochzuarbeiten. Wie jetzt die ganz spezielle Stimmung in einem Schlafsaal. In Stenhøj bei Humlebæk, nördlich von Kopenhagen, lagen wir in Schlafsälen. Einer war für Mädchen, einer für Jungs. In der Nacht mußten die Fenster offen sein. Und unsere Decken waren zu dünn.
    In der Morgue, im Leichenschauhaus der Amtsgemeinde Kopenhagen, im Keller des Gerichtsmedizinischen Instituts des Reichskrankenhauses, schlafen die Toten in bis knapp über den Gefrierpunkt gekühlten Schlafsälen den letzten, kalten Schlaf.
    Überall ist es sauber, modern und endgültig. Sogar im Schauraum, der wie ein Wohnzimmer gestrichen ist, in den man ein paar Stehlampen gestellt hat und wo eine Grünpflanze den Mut zu bewahren sucht. Über Jesaja liegt ein weißes Laken. Jemand hat einen kleinen Blumenstrauß daraufgelegt, als habe er versucht, die Topfpflanze zu unterstützen. Jesaja ist vollständig zugedeckt, doch an dem kleinen Körper und dem großen Kopf sieht man, daß er es ist. Die französischen Schädelmesser hatten in Grönland große Probleme. Sie arbeiteten mit der Theorie, daß zwischen der Intelligenz eines Menschen und seiner Schädelgröße ein kausaler Zusammenhang bestehe. Bei den Grönländern, die sie für eine Übergangsform der Affen hielten, fanden sie die größten Schädel der Welt.
    Ein Mann in weißem Kittel hebt das Laken vom Gesicht. Jesaja sieht so intakt aus, als habe man ganz vorsichtig Blut und Farbe abgelassen und ihn schlafen gelegt.
    Juliane steht neben mir. Sie ist in Schwarz und bereits den zweiten Tag nüchtern.
    Als wir den Flur entlanggehen, ist der weiße Kittel bei uns.
    »Sie sind Angehörige«, schlägt er vor. »Eine Schwester?«
    Er ist nicht größer als ich, aber breit, und hat eine Haltung wie ein Widder, der zum Stoßen ansetzt.
    »Arzt«, sagt er. Er zeigt auf seine Kitteltasche und merkt, daß dort kein Schild ist, das ihn ausweist.
    »Tod und Hölle«, sagt er.
    Ich gehe weiter. Er ist dicht hinter mir.
    »Ich habe selber Kinder«, sagt er. »Wissen Sie, ob es ein Arzt war, der ihn gefunden hat?«
    »Ein Mechaniker«, antworte ich.
    Er fährt im Fahrstuhl mit hinauf. Plötzlich habe ich das Bedürfnis zu wissen, wer Jesaja angefaßt hat.
    »Haben Sie ihn untersucht?«
    Er antwortet mir nicht. Vielleicht hat er mich nicht gehört. O-beinig eiert er vor uns her. An der Glastür zieht er plötzlich ein Stück Pappe heraus, wie ein Exhibitionist, der den Mantel aufreißt.
    »Meine Karte. Jean Pierre, wie der Flötist. Lagermann, wie die dänische Lakritze.«
     
    Juliane und ich haben kein Wort zueinander gesagt. Doch als sie sich in das Taxi gesetzt hat und ich gerade die Tür zumachen will, greift sie nach meiner Hand.
    »Die Smilla«, sagt sie, als rede sie von einer nicht Anwesenden, »ist eine feine Dame. Hundertprozentig, verdammt noch mal.«
    Das Auto fährt los, und ich richte mich auf. Es ist fast zwölf. Ich habe eine Verabredung.
     
    »Reichsobduzentur für Grönland« steht an der Glastür, auf die man stößt, wenn man den Frederik V.-Vej zurück und am Teilum-Gebäude und Gerichtsmedizinischen Institut vorbei zum neuen Trakt des Reichskrankenhauses gegangen ist und den Fahrstuhl genommen, die Stockwerke, in denen den Fahrstuhlknöpfen zufolge die Grönländische medizinische Gesellschaft , das Polarzentrum und das Institut für Arktische Medizin untergebracht sind, passiert hat und hinauffährt in den fünften Stock, eine Dachetage.
    Heute morgen habe ich das Polizeipräsidium angerufen, das mich zur Abteilung A durchgestellt hat, die mich mit dem Nagel verbunden hat.
    »Sie können ihn in der Morgue sehen«, sagt er.
    »Ich will auch mit dem Arzt sprechen.«
    »Loyen«, sagt er. »Sie können mit Loyen reden.«
    Hinter der Glastür führt ein kurzer
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