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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Gebäudelänge reicht. Die andere Hälfte, auf der Hafenseite, ist eine verschneite Fläche. Darauf sind die Spuren von Jesaja.
    An der Schneekante hockt ein Mann, der seine Knie umklammert hält und sich hin und her wiegt. Selbst zusammengekauert wirkt der Mechaniker noch groß, und noch in dieser Haltung totaler Resignation wirkt er zurückhaltend.
    Es ist so hell. Vor einigen Jahren hat man das Licht bei Siorapaluk gemessen. Von Dezember bis Februar, drei Monate, in denen die Sonne weg ist. Man stellt sich immer eine ewige Nacht vor, aber es sind Mond und Sterne da und ab und zu das Nordlicht. Und der Schnee. Man registrierte dieselbe Anzahl Lux wie außerhalb von Skanderborg in Jütland. Genau so erinnere ich meine Kindheit. Daß wir immer draußen spielten und daß es immer hell war. Damals war das Licht eine Selbstverständlichkeit. So viele Dinge sind für ein Kind selbstverständlich. Mit der Zeit fangt man dann an, sich zu wundern.
    Jedenfalls fallt mir auf, wie hell das Dach vor mir ist. Als sei es die ganze Zeit über der in einer vielleicht zehn Zentimeter dicken Schicht liegende Schnee gewesen, der das Licht dieses Wintertages geschaffen hat, und als glühe es in punktweisem Glitzern wie kleine, graue, leuchtende Perlen immer noch nach.
    Am Boden schmilzt der Schnee ein bißchen, selbst bei schwerem Frost, wegen der Wärme der Stadt. Hier oben jedoch liegt er locker, so wie er gefallen ist. Nur Jesaja hat ihn betreten.
    Selbst wenn keine Wärme da ist, kein neuer Schnee, kein Wind, selbst dann verändert sich der Schnee. Als würde er atmen, als würde er sich verdichten, sich heben und senken und sich zersetzen. Jesaja hat Turnschuhe getragen, auch im Winter, und es ist seine Spur, die abgetretene Sohle seiner Basketballstiefel mit der gerade noch sichtbaren Zeichnung konzentrischer Kreise unter der Wölbung der Fußsohle, um die sich der Spieler drehen muß.
    Er ist dort, wo wir stehen, in den Schnee hinausgetreten. Die Spuren laufen schräg auf die Dachkante zu und fuhren daran entlang weiter, vielleicht zehn Meter. Dann halten sie an. Um sich dann zur Ecke und zur Giebelseite hin fortzusetzen. Wo sie der Dachkante in einem Abstand von ungefähr einem halben Meter bis an die Ecke zum angrenzenden Packhaus hin folgen. Von dort aus ist er vielleicht drei Meter zur Mitte zurückgelaufen, um Anlauf zu nehmen. Dann führt die Spur direkt zur Kante, wo er gesprungen ist. Das andere Dach besteht aus glasierten schwarzen Ziegeln, die zur Dachrinne hin in so steilem Winkel abfallen, daß der Schnee nicht liegengeblieben ist. Es gab nichts zum Festhalten. So gesehen hätte er ebensogut direkt in den leeren Raum springen können.
    Außer Jesajas Spuren gibt es keine anderen. Auf der Schneefläche ist außer ihm niemand gewesen.
    »Ich habe ihn gefunden«, stellt der Mechaniker fest.
    Es wird für mich nie leicht sein, Männer weinen zu sehen. Vielleicht, weil ich weiß, wie fatal das Weinen für ihre Selbstachtung ist. Vielleicht, weil es für sie so ungewohnt ist, daß es sie immer in ihre Kindheit zurückverfrachtet. Der Mechaniker ist in dem Stadium, wo er es aufgegeben hat, sich die Augen zu trocknen, sein Gesicht ist eine Maske aus Schleim.
    »Putz dir die Nase«, sage ich. »Es kommen Leute.« Die beiden Männer, die aufs Dach kommen, sind über unseren Anblick nicht sonderlich erfreut.
    Der eine schleppt die Fotoausrüstung und ist außer Atem. Der andere erinnert ein wenig an einen verwachsenen Nagel, Flach und hart und voll ungeduldiger Gereiztheit.
    »Wer sind Sie?«
    »Die Nachbarin von oben«, sage ich. »Und der Herr ist der Mann von unten.«
    »Gehen Sie bitte runter.« Dann sieht er die Spuren und ignoriert uns. Der Fotograf macht die ersten Bilder, mit Blitz und einer großen Polaroidkamera.
    »Nur die Spuren des Verstorbenen«, sagt der Nagel. Er redet, als fertige er im Kopf bereits seinen Bericht an. »Die Mutter betrunken. Da hat er halt hier oben gespielt.« Dann fallt sein Blick erneut auf uns. »Gehen Sie jetzt bitte runter.«
    Zu diesem Zeitpunkt sehe ich nichts klar, es geht alles durcheinander. Das allerdings so sehr, daß ich davon abgeben kann. Ich bleibe also stehen.
    »Komische Art zu spielen, nicht wahr?«
    Manche Leute meinen vielleicht, ich sei eitel. Das will ich eigentlich nicht abstreiten. Ich kann ja auch Gründe dafür haben. Jedenfalls ist es meine Kleidung, die ihn jetzt zuhören läßt. Der Kaschmir, die Pelzmütze, die Handschuhe. Er hat zwar Lust und auch das Recht,
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