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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Moment lang glaube ich, daß auf der Treppe ein Hund liegt. Dann sehe ich, daß es ein Kind ist, und an diesem Tag ist das auch nicht sehr viel besser.
    »Hau ab, Rotzzwerg«, sage ich.
    Jesaja sieht auf.
    » Peerit «, sagt er, »hau doch selber ab.«
    Nur wenige Dänen sehen es mir an. Sie meinen, irgend etwas Asiatisches zu spüren, vor allem, wenn ich unter den Wangenknochen einen Schatten aufgelegt habe. Doch der Junge auf der Treppe sieht mich gerade an, mit einem Blick, der direkt trifft, was er und ich gemeinsam haben. Es ist ein Blick, wie ihn auch Neugeborene haben. Danach verschwindet er und kommt zuweilen bei sehr alten Menschen wieder. Mag sein, daß ich mein Leben nie mit Kindern beschwert habe, weil ich unter anderem zuviel darüber nachgegrübelt habe, weshalb die Menschen den Mut verlieren, sich direkt anzuschauen.
    »Willst du mir vorlesen?«
    Ich habe ein Buch in der Hand. Das hat seine Frage ausgelöst.
    Man könnte sagen, er sieht aus wie ein Waldgeist. Aber da er dreckig ist, nur Unterhosen anhat und vor Schweiß glänzt, kann man auch sagen, er sieht aus wie ein Seehund.
    »Verpiß dich«, sage ich.
    »Magst du keine Kinder?«
    »Ich fresse Kinder.« Er tritt zur Seite.
    » Salluvutit , du lügst«, sagt er, als ich vorbeigehe.
    In diesem Moment sehe ich zwei Dinge, die mich in gewisser Weise an ihn fesseln. Ich sehe, daß er allein ist. Wie jemand im Exil es immer sein wird. Und ich sehe, daß er die Einsamkeit nicht fürchtet.
    »Is 'n das für 'n Buch?« ruft er hinter mir her.
    »Euklids Elemente «, sage ich und knalle die Tür zu.
     
    Es blieb bei Euklids Elementen .
    Ich will sie mir noch am selben Abend vornehmen, als es an der Tür klingelt und er draußen steht, noch immer in Unterhosen, und mich einfach anstarrt. Ich trete zur Seite, und er tritt in die Wohnung und in mein Leben ein, um eigentlich nie mehr hinauszugehen. Ich nehme Euklids Elemente aus dem Regal. Wie um ihn wegzuscheuchen. Wie um sofort klarzumachen, daß ich keine Bücher habe, die ein Kind interessieren könnten, daß er und ich uns weder über einem Buch noch sonst irgendwie begegnen können. Wie um irgend etwas zu entgehen.
    Wir setzen uns auf das Sofa. Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf der Kante, so wie die Kinder aus Thule bei Inglefield, die im Sommer auf der Kante des Schlittens saßen, der im Zelt als Pritsche diente.
    »›Ein Punkt ist das, was sich nicht teilen läßt. Eine Linie ist eine Länge ohne Breite.‹«
    Es ist das Buch, das er nie kommentieren wird und auf das wir zurückkommen. Ich versuche es auch mal mit anderen Büchern. Einmal leihe ich in der Bibliothek Petzi am Nordpol aus. Mit abgeklärter Ruhe hört er der Erläuterung der ersten Bilder zu. Dann legt er einen Finger auf Rasmus Klump.
    »Wie schmeckt der?« fragt er.
    »›Ein Halbkreis ist die Figur, die von einem Durchmesser und von der durch den Durchmesser abgeschnittenen Peripherie umschlossen wird.‹«
    Für mich durchläuft die Lektüre an diesem ersten Abend im August drei Phasen. Zuerst nur die Gereiztheit über diese ganze unpraktische Situation. Dann die Stimmung, die mich bei dem bloßen Gedanken an dieses Buch packt, die Feierlichkeit. Die Gewißheit, daß es die Grundlage, die Grenze ist. Daß man, wenn man sich zurückarbeitet, vorbei an Lobatschewski und Newton und so weit zurück wie möglich, bei Euklid endet.
    »›Auf der größeren von zwei gegebenen ungleich großen geraden Linien. . .‹.«
    Irgendwann sehe ich dann nicht mehr, was ich lese. Irgendwann ist nur noch meine Stimme und das Sonnenuntergangslicht aus dem Südhafen im Raum. Und dann nicht einmal mehr die Stimme, dann sind nur noch ich und der Junge da. Irgendwann höre ich auf. Wir sitzen einfach da und schauen vor uns hin, als sei ich fünfzehn und er sechzehn und wir am point of no return angelangt. Irgendwann geht er dann ganz still. Ich schaue in den Sonnenuntergang, der in dieser Jahreszeit drei Stunden dauert. Als habe die Sonne zum Abschied doch noch Qualitäten in der Welt entdeckt, die sie nur widerstrebend Abschied nehmen lassen.
     
    Natürlich hat ihn der Euklid nicht abgeschreckt. Natürlich war es nicht wichtig, was ich las. Ich hätte ebensogut aus dem Telefonbuch vorlesen können. Oder aus Lewis' und Carrisas Detection and Classification of Ice . Er wäre trotzdem gekommen und hätte mit mir auf dem Sofa gesessen.
    Zuweilen kam er jeden Tag. Dann wieder konnten vierzehn Tage vergehen, in denen ich ihn nur einmal sah, und auch das nur
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