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Paul sucht eine Frau

Paul sucht eine Frau

Titel: Paul sucht eine Frau
Autoren: Daniel Morawek
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Knochen angegriffen, der eigentliche Grund sind aber Muskelverspannungen – und die sieht man auf einem Röntgenbild eh nicht.«
    »Siehst du«, sagt Nico. »Also – weiter im Text. Wichtiger als der Arzt ist die Krankenkasse.«
    Nico fängt an, Paul vorzumachen, wie wenig Arm- und Handfunktion er hat. Klar, nicht so viel wie Paul. Sein Freund ist C 4/5, wenn auch inkomplett. Seit Nico mit dem BMW seines Vaters gegen einen Baum gefahren ist – also seit 15 Jahren – ist Nicos Rückenmark zwischen dem vierten und fünften Wirbel beschädigt. Er ist unterhalb des Brustkorbs komplett gelähmt. Die Arme und Finger kann er zwar bewegen, allerdings nur noch langsam. Außerdem fühlt er in den Fingern fast nichts mehr. Noch weniger als Paul, dessen Handballen ja ebenfalls taub sind.
    Paul weiß das alles. Er kennt Nicos Einschränkungen bis ins kleinste Detail, da er vor jedem Rugby-Turnier dabei ist, wenn die Körperfunktionen der Spieler von unabhängigen Gutachtern geprüft werden. Jetzt sieht Paul Nico bei dessen Verrenkungen und Turnübungen zu, weiß aber nicht recht, was ihm das weiterhelfen soll.
     
    * * *
     
    Am nächsten Morgen leiht sich Paul in der Unibibliothek ein Buch über Arthrose aus. Arthrose ist Gelenkverschleiß, liest Paul darin. Ist der Knorpel abgenutzt, wird der Abstand zwischen den Gelenken zu klein. Die Knochen versuchen verzweifelt, den größer werdenden Druck bei Bewegungen auszugleichen. Paul versucht, sich besonders die Symptome einzuprägen.
    Als er bei Nicos Hausarzt vorstellig wird, ist Paul nervös. »Ich kann meine Arme nur noch unter Schmerzen bewegen. Vielleicht ist das ja Arthrose«, schlägt Paul dem Mediziner vorsichtig vor.
    »Kracht es bei Ihnen in den Gelenken, wenn Sie Ihre Arme aufsetzen?«
    »Äh, ja.«
    »Und waren die Arme schon mal angeschwollen?«
    Paul nickt zaghaft.
    »Sind die Schmerzen denn schlimm?«
    »Gar nicht so sehr, aber trotzdem komme ich kaum noch hoch, wenn ich mich abstütze.«
    »Kenn ich«, sagt der Arzt. »Das ist ganz sicher Arthrose.«
    Zu Pauls Verwunderung stellt der Arzt keine weiteren Fragen und macht auch keine Untersuchungen mit ihm, sondern verweist ihn umgehend an einen Kollegen. Dann schüttelt er Paul die Hand, steht auf und öffnet die Tür des Behandlungszimmers.
    »Also, viel Erfolg.«
    Paul schafft es gerade noch, eine Frage zu stellen, bevor der Doktor im Flur verschwindet. »Äh. Könnte ich vielleicht ein Untersuchungsergebnis haben. Für die Krankenkasse. Die brauchen das dringend, also das kann nicht warten ... äh ...«
    »Ja, ja. Kein Problem«, sagt der Arzt. »Wir schicken Ihnen den Befund in wenigen Tagen per Post.«
    »Okay, cool«, sagt Paul. Doch da ist der Mediziner längst in einem der anderen Behandlungsräume verschwunden.
     
    * * *
     
    Laut der Webseite von Pauls Krankenkasse schicken sie alle sechs Monate jemanden vom MDK – dem medizinischen Dienst der Krankenkassen – zur Überprüfung des Pflegebedarfs vorbei. Als Paul das liest, muss er unwillkürlich lachen. Der Beitrag stammt wohl noch aus dem letzten Jahrtausend. Oder aus der Steinzeit. Bei ihm war seit fünf Jahren niemand. Mittlerweile muss ein Pflegebedürftiger selbst aktiv werden. Also tütet Paul den medizinischen Befund in einen großen Umschlag ein und sendet ihn mit der Bitte um Neuüberprüfung seiner Pflegestufe ab. Eine Woche später wird ihm ein MDK-Termin mitgeteilt.
    »So, und das ist ganz wichtig«, sagt Nico, der wieder einmal bei Paul in der Küche sitzt. »Wenn der Prüfer vom MDK dich begrüßen will, streckst du ihm die Hand hin, so wie ich.«
    Nico streckt seinen Arm aus. Die Finger sind gekrümmt, die Hand hängt leicht nach unten. Ganz langsam bewegen sich seine Finger auf und zu, aber nicht viel.
    »Na, komm schon. Jetzt du.«
    Sie üben eine Weile. Paul, der seine Finger eigentlich recht gut bewegen kann, braucht lange, bis er es so hinbekommt wie Nico.
    »Gar nicht so leicht, ein Krüppel zu sein, was?«, sagt Nico.
    »Sehr witzig.«
    »Und nun gib mir bitte ein Glas. Ich hab Durst.«
    Nico deutet mit dem Kopf in Richtung des Regals über der Spüle, in dem Tassen und Gläser stehen. Paul wendet seinen Rollstuhl, fährt zu dem Möbelstück und streckt den Arm aus.
    »Falsch!«, schreit Nico und vor Schreck fällt Paul beinahe das Glas aus der Hand.
    »Du kannst doch den Arm nicht so weit strecken!«, ruft Nico.
    »Ich kann den Arm nicht soweit strecken?«
    »Du kannst den Arm nicht soweit strecken.«
    Nico kommt zu Paul
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