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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder
Autoren: Hakan Lindquist
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bist du nicht zur Seite gesprungen, Paul? Woran hast du gedacht? Was hast du im Wald gesehen?
    Ich lag auf dem Bett und fühlte mich zum Heulen.
    Plötzlich vernahm ich ein schwaches, summendes Geräusch aus dem Wohnzimmer.
    Ich stand auf und öffnete die Tür.
    Es war Papa.
    Er summte ein Lied. Ich kannte die Melodie nicht. Aber ich hatte die Worte schon einmal gehört. Ich hatte die Worte schon viele Male gehört.
    It's the time of the season when your love runs high...

ZWEI
    Manchmal wundert es mich , dass du nur fehlst. Schließlich bin ich dir ja nie begegnet. Trotzdem fehlst du mir. Fast so, als sei ich dir tatsächlich einmal begegnet. Als hätte ich dich irgendwann einmal vergessen und müsste jetzt wieder an dich denken. Ich habe oft von dir geträumt; du bist zu mir gekommen, hast mich besucht, immer nachts. Du hast mir Dinge erzählt, ohne wirklich zu mir zu sprechen. Ich weiß nicht, wie deine Stimme klingt. In meinen Träumen führen wir immer wortlose Gespräche. Und du trägst - seit ich sie auf dem Dachboden fand - immer die hellbraune Wildlederjacke.
     
    Am Abend saßen wir im Wohnzimmer und unterhielten uns. Mama, Papa und ich.
    »Bitte entschuldige, dass ich dich angeschrien habe«, sagte Mama. »Aber ich habe fast einen Schock bekommen, als ich dich in ... in seiner Jacke sah. Ihr seid so ... du fängst an, ihm ähnlich zu sehen. So wie er mit fünfzehn ausgesehen hat.«
    »Dachtest du, ich sei er ?« , fragte ich.
    »Nein«, sagte Mama lächelnd. »So ähnlich bist du ihm nicht. Und im Übrigen glaube ich nicht wirklich an Geister. Aber trotzdem, es war, als ob Paul durch die Tür gekommen wäre. Es war nicht sein Gesicht ... aber du ähnelst ihm schon ziemlich. Ich meine, man sieht, dass ihr Brüder seid. Und du bewegst dich genauso wie er. Manchmal ... sind deine Bewegungen genau wie seine. Und mit dieser Jacke ... seiner Jacke also ... «
    Papa sagte nichts. Er saß auf dem Sofa neben Mama. Er schaute abwesend aus dem Fenster und trommelte mit seinen Fingerspitzen auf seine Schenkel.
    »Natürlich kannst du die Jacke haben, wenn du möchtest. Allerdings sollten wir sie in die Reinigung geben .«
    »Sie ist an einem Ärmel etwas beschädigt«, sagte ich. »Aber das kann man vielleicht flicken .«
    Mama war eine Weile still. Ich konnte sehen, dass sie an irgendetwas dachte. Sie hob den Kopf und suchte Papas Blick; er sah aus dem Fenster. Dann fasste sie einen Entschluss. »Hol die Jacke, bitte«, sagte sie.
    Papa löste seinen Blick vom Fenster, als ich wiederkam. Er starrte auf die Jacke in Mamas Schoß.
    »Ja, die kann man sicherlich noch flicken«, sagte sie und strich mit den Fingern über den Ärmel.
    Ich wollte etwas fragen, aber traute mich nicht. Ich hatte Angst, dass sie wieder traurig würde. Ihr Blick begegnete meinem. Sie lächelte.
    »Dieser Riss...«
    »Ja?«
    »Ich meine, stammt der Riss ... ist es passiert, als ... als er überfahren wurde ?«
    Sie schüttelte den Kopf. Papa fing wieder an, mit den Fingern zu trommeln.
    »Ich glaube nicht, dass er die Jacke trug, als es passierte. Ich meine, sie hätten gesagt, dass sie neben dem Gleis gelegen hätte .«
    »Aber der Riss?«
    »Der war schon vorher da. Er ist mit dem Fahrrad gestürzt, glaube ich .«
    »Ja, das glaube ich auch«, murmelte Papa.
    »Probier sie an .«
    Ich zögerte. Die Jacke fühlte sich kälter an als vorhin, als ich sie gefunden hatte.
    »Probier sie an, Jonas«, wiederholte Mama. Langsam zog ich sie an.
    »Ja, sie sieht wirklich schick aus«, sagte Mama. »Er hat sie von Daniel bekommen, als er vierzehn wurde. Oder war es zum Fünfzehnten ?«
    Sie bemerkte, dass ich mit den Augen zu blinzeln begann.
    »Komm«, sagte sie. »Komm, Jonas. Setz dich zu uns aufs Sofa .«
    Ich setzte mich zwischen meine Eltern und begann zu weinen.
    »Aber, kleiner Freund«, sagte Mama. »Du brauchst doch nicht traurig sein. Es war doch nicht deine Schuld, dass ich mich so aufgeregt habe .«
    »Nein, das ist es nicht .« Ich schluchzte. »Es ist nur, ich wäre ihm gern begegnet. Ihr sprecht immer über ihn und erzählt von ihm, aber ihr wisst noch viel mehr als das, was ich zu hören bekomme. Ich wäre gern sein ganz normaler kleiner Bruder. Dann hätte er mir den Bau mit den kleinen Füchslein zeigen können ... und alles andere. Er hätte ... wir hätten so vieles zusammen machen können .«
    Mama streichelte mein Haar. Papa streichelte mir vorsichtig - fast unbeholfen - die Beine.
    »Ich verstehe dich«, sagte Mama. »Aber das
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