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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder
Autoren: Hakan Lindquist
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geht doch nun mal nicht. Es gibt sicherlich Tausende von Menschen, denen wir gern begegnet wären, als sie noch lebten. Aber wir müssen mit denen zufrieden sein, die wir noch haben. Er fehlt mir immer noch sehr. Obwohl ich ihm mehr als fünfzehn Jahre täglich begegnet bin und obwohl er bald genauso lange tot ist, wie er lebte, fehlt er mir sehr. Manchmal ist mir so zum Heulen zumute. Es ist ... es ist, als würde die Trauer manchmal schwächer; sie scheint nachzulassen, nur um sich dann wieder mit neuer Kraft auf mich zu stürzen. Fast wie ein lebendiges Wesen. Und ich bin jedes Mal wieder unvorbereitet. Ich werde von der Trauer förmlich attackiert. Und alles kommt wieder hoch, so wie damals .«
    Sie wischte mir mit ihren Fingern meine Tränen weg.
    »Du kannst an ihn denken oder von ihm träumen, so viel du willst«, fuhr sie fort, »aber leider wirst du ihm niemals begegnen. Jedenfalls wenn es keinen Himmel gibt. Denn in diesem Fall würdest du ihm begegnen. Und ich und Stefan könnten ihn auch wiedersehen .«
    »Du brauchst nicht traurig sein«, sagte Papa mit freundlicher Stimme. »Man darf die Trauer nie die Oberhand gewinnen lassen. Dann wird alles nur noch schlimmer .«
    »Aber ich verstehe es nicht«, fing ich an. »Warum sprang er nicht zur Seite? Wie konnte er den Zug nicht hören? Das begreife ich nicht .«
    Mama holte tief Luft. »Nein, Jonas. Das verstehe ich auch nicht. Ich habe mich das auch immer gefragt. Aber Paul war häufig verträumt. Er konnte ewig aus dem Fenster starren, ohne wirklich etwas zu betrachten. Ich nehme an, er träumte. Oder er dachte einfach sehr intensiv an etwas. Manchmal musste ich seinen Namen mehrmals wiederholen, bevor er mich bemerkte. Ich weiß nicht, aber vielleicht war es damals genau so. Vielleicht befand er sich einfach gerade an dieser Stelle, auf dem Gleis, als er anfing nachzudenken. Und von irgendetwas zu träumen. Und deshalb hörte er den Zug nicht. Zumindest ist das für mich die einzige Erklärung .«
    »Aber wovon träumte er ?«
    »Das weiß ich auch nicht .« Mama lächelte.
    »Vielleicht dachte er an irgendein Mädchen, das er getroffen hatte. Meinst du nicht ?«
     
    In dieser Nacht träumte ich von meinem Bruder.
    Paul saß am Schreibtisch. Er trug die hellbraune Wildlederjacke. Neben ihm - über der Lehne des Schreibtischstuhls - hing dieselbe Jacke, allerdings war es meine. Paullächelte, als ich ihn ansah. Das Fenster hinter ihm war tiefschwarz.
    »Hallo Jonas«, sagte er.
    »Hallo Paul.«
    »Träumst du von mir ?«
    »Ja«, antwortete ich. »Ziemlich oft.«
    »Jetzt auch gerade ?« , fragte Paul.
    »Ja, ich glaube schon .«
    Er lachte und lehnte sich vor.
    Ich setzte mich im Bett auf und schloss die Arme um meine Knie.
    Paul ergriff die Schreibtischplatte mit beiden Händen. Dann lehnte er sich noch weiter vor.
    »Pass auf !« , schrie ich. »Du fällst !«
    Er lachte. »Ich falle nicht«, sagte er und fiel Richtung Boden.
    Aber er stieß nicht auf Stattdessen streckte er sich in der Luft aus, seine Hände berührten fast die Decke. Einen Moment war er völlig reglos; er schwebte ruhig zwischen Boden und Decke. Dann stand er plötzlich neben meinem Bett.
    Er beugte sich zu mir herunter. Er lächelte.
    »Mein kleiner Bruder«, sagte er.
    Ich streckte meine Hand aus, um ihn zu berühren, doch als meine Finger seine Jacke erreichten, war er nicht mehr da. Er stand vor dem Fenster.
    »Wovon hast du geträumt, als du auf dem Gleis gestanden hast ?« , fragte ich.
    Paul drehte sich um und sah mich an. Dann lachte er und öffnete das Fenster sperrangelweit. Ein eiskalter Windzug kam herein, und ich zog die Decke enger um mich.
    »Wovon hast du geträumt ?« , rief ich laut, um das Heulen des Windes zu übertönen.
    »Schmetterlinge !« , schrie Paul.
    Und die Fensteröffnung füllte sich mit silbern glänzenden Schmetterlingen, die sich glitzernd in mein Zimmer drängten. Vergeblich versuchte ich, meinen Bruder hinter all den Tausenden von Flügeln zu erkennen.
    Dann wachte ich auf.
     
    Draußen vor dem Fenster war es genauso tiefschwarz wie in meinem Traum. Über der Stuhllehne konnte ich den Kragen seiner Jacke, die jetzt mir gehörte, ausmachen. Aber Paul war nicht mehr da.
    Ich knipste meine Nachttischlampe an, stand auf und holte die Jacke. Sie fühlte sich kalt und steif an. Ich nahm sie mit ins Bett, stapelte die Kissen gegen die Wand und setzte mich hinein.
    Ich hielt die Jacke vor mich; die Knöpfe glänzten im Schein der Lampe. Ein Schimmer von
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