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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder
Autoren: Hakan Lindquist
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hörte ich auf, Zettel über Paul zu schreiben. Ich dachte zwar nach wie vor an ihn, aber er wirkte nicht mehr so nahe. Es schien, als würde er langsam verblassen. Aber dann geschah etwas, das ihn wieder zurückbrachte.
    Es war einige Tage vor den Sportferien in der Achten. Ich hatte mich zu einem Tischtennisturnier in der Schule angemeldet, aber ein paar Tage vor meinem ersten Spiel schaffte ich es, meine Kelle kaputt zu schlagen.
    »Verdammt !« , schimpfte ich sauer und schaute auf den zerborstenen Griff. »Und ich kann mir keine neue leisten. Verdammt !«
    Als ich nach Hause kam, war Papa müde und gereizt. Er saß im Wohnzimmer und las eine seiner Angler-Zeitungen. Ich zeigte ihm die Kelle und erzählte, was passiert war.
    »Du bist zu nachlässig«, sagte er verärgert. »Wie kriegst du es bloß immer hin, alles kaputt zu machen ?«
    »Das stimmt doch gar nicht. Warum sagst du so etwas ?«
    »Schluss jetzt! Siehst du nicht, dass ich lese ?«
    »Aber, Papa«, bettelte ich und versuchte nicht sauer zu klingen. »Ich will doch am Schulturnier teilnehmen. Da brauche ich ja wohl eine Kelle, um mitzuspielen, oder ?«
    »Daran hättest du vorher denken sollen .«
    »Wie hätte ich daran denken sollen? Es war doch ein Unfall. Kann ich keine neue bekommen ?«
    »Nein!«
    »Warum nicht?«
    »Weil das zu viel kostet. Wenn du eine neue haben möchtest, kannst du sie dir selbst zusammensparen. Ich werd doch nicht für deine Nachlässigkeit bezahlen .«
    Ich war gerade dabei, das Gespräch mit irgendetwas Bösem und Gemeinem zu beenden, als Mama aus der Küche rief: »Du, Jonas .« Sie beugte sich zu mir runter, als ich bei ihr war und flüsterte fast: »Das renkt sich bestimmt schon wieder ein .«
    »Und wie?«
    »Du«, sagte sie und legte mir ihre Arme um die Schultern, »es gibt eine oder zwei Kellen auf dem Dachboden. Wenn du Glück hast, sind sie noch in Ordnung. Ich glaube, die tun es noch so lange, bis du dir eine neue kaufen kannst .«
    »Auf dem Dachboden? Wem gehören die denn ?«
    Sie griff nach dem Dachbodenschlüssel, der hinter der Küchentür hing.
    »Es waren Pauls«, sagte sie. »Er war richtig gut beim Tischtennis. Er und Daniel haben immer gemeinsam gespielt. Daniel hatte ja eine eigene Tischtennisplatte in seinem Keller .«
    »Daniel hat eine Tischtennisplatte? Das wusste ich gar nicht .«
    »Na ja, damals hatte er zumindest eine. Ich weiß nicht, ob er die noch hat. Jetzt kann er ja sowieso nicht mehr spielen .«
    »Warum nicht?«
    Sie lachte auf und sah mich erstaunt an. »Was ist denn los mit dir, Jonas? Ist es dir vielleicht entgangen, dass Daniel seit zwei, drei Jahren an Krücken geht ?«
    Ich errötete und schüttelte den Kopf.
    »Nein, daran habe ich nicht mehr gedacht .« Daniel war ein Jugendfreund meiner Mama.
    Als ich klein war, ist er immer mein Babysitter gewesen. Es hatte mich überrascht, als er plötzlich an Krücken bei uns aufgetaucht war. Er war schließlich ein Jahr jünger als Mama. Und sah noch jünger aus. Noch überraschter war ich, als ich den Grund für seine Behinderung erfuhr. Mein Papa - der von Daniels Nähe zu mir und Mama manchmal genervt war - erzählte, dass »zügelloses Saufen« die feinen Blutgefäße in den Beinen zerstört hätte, und Daniel deshalb nicht mehr ohne Krücken gehen könne. »Er ist eben ein armer Teufel !« , sagte Papa. Und auch Mamas eher milde Einstellung zu Menschen im Allgemeinen - und Daniel im Besonderen - konnte keine andere Erklärung geben, auch wenn sie ihre Worte anders wählte: Es war der Alkohol, der Daniels Beine zerstört hatte und ihn zwang, an Krücken zu gehen, obwohl er noch nicht einmal fünfzig Jahre alt war.
    »Ich werde dir zeigen, wo die Kellen sind«, sagte Mama. »Ach, nein! Ich wollte ja gerade zu Else gehen. Es ist schon fast drei Uhr. Du musst wohl selbst suchen. Ich glaube, sie liegen im weinroten Koffer. Wenn du sie nicht findest, kann ich dir helfen, wenn ich nach Hause komme .«
     
    Ich öffnete die Tür zum Dachboden. Es war das erste Mal, dass ich allein hinaufging. Ich fand den Lichtschalter und ging durch einen Korridor aus Maschendrahtverhauen.
    Unser Speicher war voller Plunder: Skier, Schlitten, alte Lampen, Kleidung und Koffer. Und dann noch eine hässliche dunkelbraune Anrichte. Dahinter konnte ich den weinroten Koffer erkennen. Ich musste auf die Anrichte steigen, um an ihn heranzukommen.
    Der Koffer war groß und schwer. Mit ein wenig Mühe war es mir gelungen, ihn auf die Anrichte zu hieven, als das
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