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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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miteingerechnet.
    Durch einen monumentalen Bogen gelangte man in den weitläufigen Ehrenhof; er wurde »Bildungsbahnhof« genannt und war von den Docks der Wissenschaft umgeben. Die Refektorien, die Schlafräume, der Saal für den jährlichen Leistungswettbewerb, in den bequem dreitausend Schüler paßten, lohnten eine Besichtigung, versetzten aber die seit fünfzig Jahren an so viele Wunderwerke gewohnten Leute nicht mehr in Erstaunen.
    Die Menge drängte also begierig zu dieser Preisverteilung, einer immer wieder sehenswerten Festlichkeit, die gut und gerne fünfhunderttausend Menschen interessierte – sowohl Verwandte wie auch Freunde oder Verbündete. Und so strömten die Massen über die Eisenbahnstation Grenelle herbei, die damals am äußersten Ende der Rue de l’Université lag.
    Diesem Publikumsandrang zum Trotz verlief alles in bester Ordnung; die Regierungsbeamten, weniger dienstbeflissen und deshalb weniger unausstehlich als die Angestellten der früheren Gesellschaften, ließen gerne alle Türen offenstehen; hundertfünfzig Jahre hatte man gebraucht, um zu erkennen, daß es bei großem Gedränge besser ist, die Zahl der Ausgänge zu vermehren, als sie zu reduzieren.
    Der Bildungsbahnhof war für die Zeremonie prunkvoll hergerichtet worden; doch kein Platz ist so groß, daß er sich nicht füllt, und bald war der Ehrenhof voll.
    Um drei Uhr hielt der Minister für die Verschönerung von Paris in Begleitung des Barons von Vercampin und der Mitglieder des Aufsichtsrates feierlich seinen Einzug; der Baron saß rechts von Seiner Exzellenz; Monsieur Frappeloup thronte zu seiner Linken; von der Tribüne herunter verlor sich der Blick in einem Meer von Köpfen. Da erschallten mit lautem Getöse, in allen Tonarten und in den unverträglichsten Rhythmen die verschiedenen Musikkapellen der Lehranstalt. Diese ordnungsgemäße Kakophonie schien die zweihundertfünfzigtausend Ohrenpaare, in die sie hineinbrauste, nicht weiter zu schockieren.
    Die Zeremonie begann. Diskretes Raunen machte sich breit. Der Augenblick der Reden war gekommen.
    Im vergangenen Jahrhundert behandelte ein gewisser Humorist namens Karr die eher offiziellen als lateinischen Reden, die bei Preisverteilungen heruntergeleiert wurden, genau so, wie sie es verdienten; in der Zeit, in der wir leben, hätte ihm dieser Stoff für seine Späße gefehlt, denn das lateinische Redekunststück war aus der Mode gekommen. Wer hätte es schon verstanden? Nicht einmal der Unterchef für Rhetorik!
    Eine Rede auf Chinesisch ersetzte es vorteilhaft; mehrere Passagen entlockten reihum zustimmendes Gemurmel; eine wundervolle Suada über den Vergleich der verschiedenen Zivilisationen auf den Sundainseln erhielt sogar die Ehre eines Dacapo. Dieses Wort wurde also noch verstanden.
    Endlich erhob sich der Direktor für angewandte Wissenschaften. Ein feierlicher Augenblick. Es war das Gustostück.
    Diese rasende Rede erinnerte zum Verwechseln an das Pfeifen, Knirschen, Ächzen, an die tausend unliebsamen Geräusche, die einer auf vollen Touren laufenden Dampfmaschine entweichen; der hastige Ausstoß des Redners glich einem in höchste Rotation versetzten Schwungrad; es wäre unmöglich gewesen, diese Hochdruckeloquenz zu bremsen, und die quietschenden Sätze griffen unaufhaltsam wie Zahnräder ineinander.
    Um die Sinnestäuschung vollkommen zu machen, schwitzte der Direktor Blut und Wasser, und eine Dampfwolke umhüllte ihn von Kopf bis Fuß.
    »Zum Teufel!« sagte lachend zu seinem Nachbarn gewandt ein alter Mann, dessen scharfsinniges Gesicht hochgradige Verachtung gegenüber diesen rednerischen Narrheiten zum Ausdruck brachte. »Was halten Sie davon, Richelot?«
    Monsieur Richelot begnügte sich damit, als einzige Antwort mit den Schultern zu zucken.
    »Er läuft heiß«, fuhr der Alte fort, indem er seine Metapher weiterspann; »Sie werden mir entgegenhalten, daß er Sicherheitsventile hat; aber wenn ein Direktor für angewandte Wissenschaften explodiert, wäre das ein peinlicher Präzedenzfall!«
    »Wohl gesprochen, Huguenin«, antwortete Monsieur Richelot.
    Ein nachdrückliches »Pst!« von allen Seiten unterbrach die beiden Schwätzer, die einander lächelnd anschauten.
    Indes machte der Redner um so heftiger weiter; kopfüber stürzte er sich in einen Lobpreis der Gegenwart zu Lasten der Vergangenheit; er stimmte die Litanei der modernen Entdeckungen an, gab sogar zu verstehen, daß die Zukunft in dieser Hinsicht wenig zu tun bekommen werde; mit wohlwollender
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