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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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Geringschätzung sprach er von dem kleinen Paris des Jahres 1860 und von dem kleinen Frankreich des 19. Jahrhunderts; unter reichlicher Zuhilfenahme von schmückenden Beiwörtern zählte er die Segnungen seiner Zeit auf, die schnellen Verbindungen zwischen den verschiedenen Punkten der Hauptstadt, die Lokomotiven, die den Asphalt der Boulevards durchfurchten, die ins Haus gelieferte Antriebskraft, die Kohlensäure, die den Wasserdampf verdrängte, und schließlich den Ozean, den Ozean selbst, der mit seinen Fluten die Ufer von Grenelle umspülte; er war bei seinem Sermon erhaben, lyrisch, dithyrambisch, mit einem Wort vollkommen unerträglich und ungerecht, denn er vergaß, daß die Wunder des 20. Jahrhunderts bereits in den Entwürfen des 19. keimten.
    Frenetischer Beifall brach an eben jenem Orte aus, an dem einhundertsiebzig Jahre zuvor Hochrufe das Fest der Föderation begrüßt hatten.
    Da jedoch alles hienieden ein Ende nehmen muß, selbst die Reden, blieb die Maschine stehen. Nachdem die oratorischen Übungen ohne Unfall abgeschlossen worden waren, schritt man zur Preisverteilung.
    Die beim großen Leistungswettbewerb gestellte Frage zur hohen Mathematik lautete folgendermaßen: »Gegeben sind zwei Kreisumfänge OO’: von einem auf O gelegenen Punkt A legt man die Tangenten an O’: man verbindet die Berührungspunkte dieser Tangenten: man führt die Tangente zum Kreisumfang O durch A; gefragt ist der Ort des Schnittpunktes dieser Tangente mit der Sehne der Berührungen im Kreisumfang O’.«
    Jeder begriff die Wichtigkeit eines solchen Theorems. Man wußte, wie es nach einer neuen Methode vom Schüler Gigoujeu (François Némorin) aus Briançon (Hautes-Alpes) gelöst worden war. Die Bravorufe verstärkten sich, als dieser Name verkündet wurde; vierundsiebzigmal wurde er an diesem denkwürdigen Tag ausgesprochen: zu Ehren des Preisträgers zertrümmerte man die Sitzbänke, was auch im Jahre 1960 nur eine Metapher war, um die Begeisterungsstürme zu beschreiben.
    Gigoujeu (François Némorin) gewann bei dieser Gelegenheit eine Bibliothek von dreitausend Bänden. Die
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leistete ganze Arbeit.
    Wir können die endlose Nomenklatur der Wissenschaften, die in dieser Bildungskaserne gelehrt wurden, nicht anführen: ein aktuelles Preisträgerverzeichnis hätte die Urgroßväter dieser jungen Gelehrten aufs äußerste erstaunt. Die Verteilung nahm ihren Lauf, und Gelächter wurde laut, wenn irgendein armer Teufel aus der Literaturdivision, dem beim Aufrufen seines Namens Schamesröte ins Gesicht stieg, einen Preis für eine Übersetzung ins Lateinische oder eine Auszeichnung für eine Übertragung aus dem Griechischen erhielt.
    Doch es kam ein Augenblick, in dem der Spott sich verdoppelte, in dem die Ironie ihre demütigendsten Formen annahm. Als nämlich Monsieur Frappeloup die folgenden Worte zum besten gab:
    »Erster Preis für lateinische Verse: Dufrénoy (Michel Jérôme) aus Vannes (Morbihan).«
    Es herrschte eine allgemeine Heiterkeit, in der Äußerungen folgender Art zu hören waren:
    »Ein Preis für lateinische Verse!«
    »Er war der einzige Kandidat!«
    »Seht euch doch diesen Pindospilger an!«
    »Diesen Stammgast des Helikon!«
    »Diesen Pfeiler des Parnaß!«
    »Er geht hin! Er geht nicht!« usw.
    Doch Michel Jérôme Dufrénoy ging hin, und noch dazu höchst selbstbewußt; er trotzte dem Gelächter, ein blonder junger Mann mit einem reizenden Gesicht und einem anmutigen Blick, weder linkisch noch ungeschickt. Seine langen Haare verliehen ihm ein leicht feminines Aussehen. Sein Antlitz strahlte.
    Er trat bis zur Tribüne vor, doch anstatt seinen Preis aus der Hand des Direktors entgegenzunehmen, entriß er ihn diesem geradezu. Dieser Preis bestand aus einem Buch:
Leitfaden des guten Industriearbeiters.
    Michel betrachtete den Band voller Verachtung, warf ihn zu Boden und ging in aller Ruhe an seinen Platz zurück, den Kranz auf der Stirn und ohne die offiziellen Wangen Seiner Exzellenz geküßt zu haben.
    »Gut«, meinte Monsieur Richelot.
    »Mutiger Junge«, sagte Monsieur Huguenin.
    Gemurmel erhob sich von allen Seiten; Michel nahm es mit einem herablassenden Lächeln entgegen und setzte sich inmitten seiner feixenden Mitschüler wieder auf seinen Platz.
    Gegen sieben Uhr abends ging diese große Zeremonie ohne Zwischenfall zu Ende; fünfzehntausend Preise und siebenundzwanzigtausend Auszeichnungen wurden dabei verbraucht.
    Noch am selben Abend speisten die
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