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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten
Autoren: Péter Nádas
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unterlassen hatte, was seine Phantasie mit ihm machte oder was überhaupt mit ihm geschah, sondern bloß darüber, dass er sich dem Ermittlungsbeamten gegenüber ungeschickt verhalten hatte. Als habe er nicht nur die Deckung verlassen, sondern mit seiner Geschwätzigkeit eine Menge unübersehbarer und unangenehmer Konsequenzen heraufbeschworen. Das Nervenfieber vom Vortag hatte zwar keinerlei äußere Spuren hinterlassen, höchstens eine unbedeutende Erkältung, er schniefte. Wer ihn anschaute, hätte nur einen streng wirkenden, ruhigen, hochgewachsenen jungen Mann gesehen, der gerade ein wenig vor sich hin träumte, doch irgendwie hatte sich das Fieber in seinen Zellen verbreitet, ein wichtiges Zentrum seines Hirns überflutet und infiziert. Es wühlte seine individuell gestaltete, zerbrechliche innere Welt auf, in der er bis dahin isoliert gelebt hatte; es vergrößerte einzelne Gegenstände seiner Erinnerung und seiner Phantasie, blähte sie auf und ließ der einströmenden Außenwelt jetzt tatsächlich fast keinen Raum mehr. Als er in der Morgenfrühe in den Zug gestiegen war, hatte er beim Öffnen der Abteiltür die dort Sitzenden mechanisch gegrüßt, als er ein paar Stunden später ausstieg, verabschiedete er sich ebenso mechanisch.
    Eine seiner Mitreisenden war von seiner Reglosigkeit geradezu überwältigt, aber auch diese junge Frau bemerkte er nicht.
    Er fuhr bis Düsseldorf, wo er auf seine Zwillingsschwester warten sollte, die von Frankfurt kam, bis dahin aber waren es noch volle vier Stunden.
    Als er endlich dort eintraf, dröhnte es in der mächtigen Ankunftshalle des Bahnhofs und auf allen Bahnsteigen von der widerlichen Masse der gehetzten, drängelnden Menschen.
    Sie fuhren selten nach Hause, und diese Fahrten hatten ihr eigenes Ritual, das zu verletzen ihm bis jetzt noch nie in den Sinn gekommen wäre. Die Düsseldorfer Stunden waren, als würde er stufenweise wieder aufgenommen, von der Familie, der Gegend, von allem Vertrauten. Auch wenn er nirgendwo wieder aufgenommen werden wollte. Es war ihm unbehaglich mit seiner Zwillingsschwester, wenigstens hätte sie kein Mädchen sein und ihm nicht so nahe stehen sollen, er wollte seine Familie nicht. Ausbrechen wollte er, wohin aber, das hätte er nicht sagen können. Hinaus aus diesem Familiennetz, das ihn festhielt und dauernd zurückzog, weg von den Frauen. Zwischen den Schließfächern der Gepäckaufbewahrung bewegten sich unter den Überwachungskameras die Menschen, lächerlich auch sie. Jeder suchte sich das sicherste Schließfach, aus dem seine Sachen nicht gestohlen würden. Döhring stieß sein Gepäck demonstrativ in das erstbeste, vorderste Fach. Die Scherben einer zerbrochenen Bierflasche knirschten unter seinen Sohlen, in der Ecke stank ein Obdachloser, die Flasche hatte wahrscheinlich er fallen lassen, jetzt schnarchte er stockbesoffen.
    Döhring nahm den gewohnten Weg zur Wohnung seiner Tante, die ihn bei solchen Gelegenheiten mit einem üppigen Frühstück erwartete.
    Das waren ihre gemeinsamen Stunden, auf die sich beide still vorbereiteten.
    Er hatte einen Fußweg von etwa zehn Minuten, aber in die Straße bog er nicht ein.
    Womit tatsächlich ein langjähriges, in den unbewussten Dämmer der Kindheit zurückreichendes Spiel unterbrochen wurde. Das Spiel ging so, dass die schöne Tante seine Lieblingstante war, und sie beide würden sich im Widerstand gegen ihre primitive und durchschnittlich spießbürgerliche Familie heiß lieben. Als würde von ihm verlangt, dass er im Interesse seiner Unabhängigkeit statt seiner Schwester die Tante liebe. Welche tatsächlich eine ansehnliche Erscheinung war, eine amüsante, fröhliche, wohlhabende Fünfzigerin, seit Jahrzehnten in der Modebranche tätig, als Repräsentantin eines solid renommierten italienischen Großkonzerns, wobei sie ein strenges, beinahe asketisches, relativ freies Leben führte. Sie reiste auf dem ganzen Kontinent umher, beschäftigte an den entlegensten Orten Menschen, die ein außergewöhnliches Handwerk betrieben, Perlenaufzieher, Leineweber, Spitzenklöppler, Posamentierer. Wahrscheinlich war es eher sie, die einen Lieblingsneffen brauchte, von dem sie viel erwarten durfte, dessen Existenz sie aber zu nichts verpflichtete, das eigene Kinder von ihr verlangt hätten, und da sie zu gegebener Zeit überhaupt nicht daran gedacht hatte, Kinder zu gebären, war sie es gewesen, die den kleinen Jungen zu dem Endlosspiel verlockt hatte. Sie hatte ihn tatsächlich von seiner
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