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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten
Autoren: Péter Nádas
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er, lehnte Emotionalität überhaupt ab. Erst recht ein solches unwillkürliches und unkontrollierbares Zittern, das ihn vollends durcheinandergebracht hatte. Es erinnerte ihn an bestimmte Verwirrungen und Erregungen, die er sonst sorgfältig verdrängte. Er wusste nicht, woher das Zittern gekommen und wie es dann aus seinen Knochen und Muskeln wieder verschwunden war, jedenfalls fand er, dass es am Vortag zu viel der Emotionen gewesen war, am besten das Ganze so rasch wie möglich vergessen. Auch damit, mit dem Vergessen, wollte er sich nicht beschäftigen. Genauer, er beschäftigte sich damit, das Vergessen so rasch wie möglich zu vergessen.
    Von hier aus gesehen erschien die Stadt wie ein endloser, öder Rangierbahnhof. Der Zug ratterte über Weichen, Birken wuchsen zwischen den stillgelegten Gleisen.
    Wenn er seine Gefühle ernst genommen, sie nicht verdrängt, sondern sich erlaubt hätte, sie in Ruhe wirken zu lassen, hätte er seine Bitterkeit, seine Einsamkeit ganz nah an sich heranlassen müssen, alles das, was sein Unglück ausmachte und was er ganz und gar nicht zur Kenntnis zu nehmen wünschte.
    Seit zwei Jahren lebte er in der Stadt und hatte weder Bekannte noch Freunde. Wie anders hätte er das begründen können, als dass es seinem freien Entschluss entsprach.
    Er sagte sich nicht, stimmt, ich bin ein früh verbitterter, ziemlich trauriger Mensch und habe diese Wissenschaften gewählt, um meine Gefühle gegen das ständige Leiden zu wappnen und um gegen den klaffenden Zweifel auch geistig gerüstet zu sein, damit ich vielleicht eines Tages meinem Leiden auf den Grund gehen kann.
    Leute, hätte er rufen sollen, ich tue den ganzen Tag so, als wäre alles in Ordnung, aber dadurch leide ich noch mehr. Helft mir, irgendjemand, egal wer, soll kommen, ohne anzuklopfen, rennt mir die Tür ein, egal wann. Nein, er machte es genau umgekehrt, dachte das Gegenteil. Seine Gefühle ließ er nur an seinen Verstand heran, damit der seine Seelenqualen niederringe. Es ging ja auch so. Er sagte sich, dass der Mensch prinzipiell ein Einzelgänger sei, jeder für sich, und am meisten betrügen sich die Menschen, wenn sie in ihrem Fortpflanzungstrieb einen Vorwand für eine dauerhafte Verbindung suchen und sich vormachen, in einem anderen Menschen das berühmte Glück gefunden zu haben. Die würden dann schon noch erwachen. Seelenschmerz vorgeplant. Sie wissen das auch, tun es aber trotzdem. Er hingegen habe mehr Glück, weil er nicht zu solchem Selbstbetrug neige. Er sehe ja, wie andere den ganzen Tag nichts anderes tun, als einander zu hassen, zu vermissen, zu begehren, anzubeten, zu besitzen, er hingegen begehre niemanden, ihm fehle niemand, er komme sehr gut mit sich selbst aus und brauche niemanden zu quälen und zu hassen. Ein erleuchteter Zustand, unvoreingenommen könne er beobachten, was diese einander und sich selbst ausgelieferten Unglücklichen miteinander anstellen.
    Die taten ihm wirklich leid.
    Döhrings Art war kühl und abweisend genug, jedem die Lust zu einer Annäherung zu nehmen, von seinem Äußeren hingegen hätte man nicht sagen können, dass es etwas Absonderliches hatte, höchstens dass es eher belanglos als aufregend oder interessant wirkte. Im Grunde verachtete er alle, einschließlich der toten Autoren, die er gerne las. Auch deren Leben war voller unappetitlicher, wirrer Angelegenheiten gewesen, was man ihren unsterblichen Werken auch ansah. Dahin wollte er nun wirklich nicht, bloß konnte er über diese Dinge, über die er leidenschaftlich nachdachte, mit niemandem reden, da ihn tatsächlich niemand ansprach, der sich mit ihm über dieses oder jenes Thema ausgetauscht oder eventuell seine Zärtlichkeit in Anspruch genommen hätte.
    Solange der Zug noch durch Stadtgebiet fuhr, starrte er zum Fenster hinaus.
    Wie jemand, der sich zurückzuhalten versucht oder darauf hofft, dass diese struppigen Gärten, rußschwarzen Brandmauern, trostlosen Bahnhöfe und bleigrauen Hinterhöfe wenigstens seinen Blick zurückhielten, ihn nicht losließen. Wie typisch für ihn, dass er die ganze Zeit auf dem Schoß ein Buch geöffnet hielt, in dem er lesen wollte. Als müsste er fortwährend zwanghaft signalisieren, was für ein beschäftigter Mensch er sei und dass man ihn nicht unnötig stören solle.
    Er konnte seinen Kopf nicht abwenden, wollte die Stadt nicht loslassen.
    Er fürchtete, man könnte ihn in seiner Abwesenheit irgendeiner Sache beschuldigen. Nicht darüber dachte er nach, was er getan oder
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