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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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hörte ein trockenes Krachen, sah die unter ihm fortschwingende Gerüststange und dann Helmcke mit c, k, der mit aufgerissenen Augen auf dem Betonmischer lag, unten vor dem Hinterausgang. Er hatte noch nicht einmal mehr Zeit zum Schreien gehabt.
    Cengi starrte die Gerüststange an, die schräg und sinnlos die Ordnung des rechtwinkligen Gefüges störte. Er schwankte auf dem jetzt ungesicherten Brett, fand den Abstieg jenseits der Loggia, die Leiter führte hinab zur nächsten Gerüstetage, mechanisch wie ein Schlafwandler griff er Sprosse für Sprosse, als habe er Zeit. Er konnte nicht mehr denken. Unten angekommen, blieb er Sekunden auf dem Gras stehen, näherte sich zögernd dem Vollstrecker, seine Tasche an sich gepresst wie einen Schutzschild. Es war kaum etwas darin. Nur eine saubere Hose, ein sauberes Hemd, eine Dose mit Brot und die Thermoskanne. Das war alles, was er besaß, nicht mehr als das, womit er vor drei Jahren nach Deutschland gekommen war.

    Helmcke rutschte in Zeitlupe vom Betonmischer, sackte zusammen und blieb verrenkt liegen, mit leerem Blick aus toten Augen.
    »He, Hinrich, was machst du denn da?«, brüllte es plötzlich von oben.
    Cengi schnellte herum. Die Kollegen. Er hatte sie vergessen. Er musste fort.
    »Was machst du bloß, Hinrich?!«
    Aber Hinrich machte nichts mehr.
    Jetzt stiegen die beiden Männer die Leiter herab. Mit jeder Sprosse wurden sie schneller.
    »Ich …,« fing Cengi an. Er wollte erklären, wie … Aber sie würden ihm nicht zuhören.
    Schnell überquerte er die mit Büschen und Bäumen bewachsene Fläche zum nächsten Mannschaftsblock und verschwand dahinter.
    Er hatte eine sehr kleine Chance, wenn er es über den Zaun schaffen würde. Über den Stacheldraht.

3.
    Rechtsanwalt Schlüter, von manchen seiner Kollegen auch »der Fuchs« genannt, verließ seine Kanzlei im Dachgeschoss des Altstadthauses, trat hinunter auf die dunkle Straße und atmete die scharfe Novemberluft ein. Es roch nach fauligem Hafenwasser und Frost. Gestern war Buß- und Bettag gewesen und pünktlich zeigte der Winter seine ersten Kristalle. Nicht lange, und man würde Weihnachtssterne und Lichterketten aufhängen und die Fensterbänke mit Kerzentreppen vollstellen.
    Im alten Hafen dümpelte ein abgetakeltes Segelschiff. Man hatte es kürzlich mit einem Kran in das Becken gesetzt, der Touristen wegen. Es konnte nicht fort und hinaus auf die Elbe in Wind und Tide und Wellen und die Freiheit der Meere, weil eine Straße den alten Hafen vom neuen trennte. Und so wie das Schiff fühlte sich Schlüter: eingesperrt, überflüssig, schal. Ein Leben ohne Herausforderungen. Am liebsten wäre er zum Nordpol gegangen, aber er ging immer nur in sein Büro, im dritten Jahrzehnt nun schon, jeden Arbeitstag, und das ganze Jahr stritt er sich für andere und zu Hause las er dicke Bücher und trank Tee mit Christa, seiner Frau, mit der er seit frühesten Studententagen verheiratet war und drei Kinder großgezogen hatte, die längst ihr eigenes Leben führten. Schlüter fühlte sich taub, leer. Er sehnte sich nach einem Abenteuer. Er hatte schon lange nichts Richtiges mehr erlebt.

    Abgesehen vielleicht von dem Konzert vorgestern. In dem er mit Christa gewesen war, in der Stadthalle, dem teuersten Dorfgemeinschaftshaus Norddeutschlands, ein 53 Millionen Mark teurer Beweis für die Unfähigkeit des Menschen, mit fremdem Geld zu haushalten; es sollte der müden Kultur dieses verschlafenen Beamtennestes aufhelfen. Kultureum hieß das Haus aus Beton und Glas hochtrabend, das sich der Stadtdirektor als Denkmal gesetzt hatte, bevor er zum Aufbau Ost nach Sachsen-Anhalt davongegangen war. Nun hatte sein Nachfolger das Defizit zu verantworten.
    Seitdem konnte Heino auch in Hemmstedt Kein schöner Land singen. Aber nicht für Peter Schlüter und seine Frau Christa, sie hatten das slowakische Symphonieorchester aus Bratislava unter der Leitung von Libor Pešek gehört: die Salzburger Symphonie von Mozart, Köchelverzeichnis 137, und Stücke von Haydn und Vivaldi. Frau Elfers hatte die Konzertkarten, die sie von ihrem Putzstellenchef geschenkt bekommen hatte, auf Schlüters Schreibtisch gelegt, als sie ihn wegen des Grabsteinprozesses heimsuchte, mit der Bemerkung, vielleicht könne er ja was damit anfangen. Sie jedenfalls nicht. »Mein Mann geht nicht zu so was, und Pratischlawa, wo ist das eigentlich?«
    Schlüter ging eigentlich auch nicht zu so was, nach der Arbeit mied er Menschen. Seine freie Zeit pflegte er lieber mit
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