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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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scheuen Seitenblick auf das Porträt des Präsidenten. Man könne derart verfahren, gab er schließlich zu – doch werde es an der notwendigen Beleuchtung fehlen.
    Das Problem werde er lösen, versicherte der Gesandte, auch werde er Galgen, Henker und Beisitzer herbeischaffen, damit die Urteile unmittelbar nach ihrer Verkündung vollstreckt werden könnten; der Staatsanwalt habe den Tod aller siebenundzwanzig Angeklagten verlangt, ob man die Vorbereitungen danach orientieren könne?
    Das wisse er nicht, erklärte der Richter, das stehe erst fest, wenn die Urteile geschrieben seien.
    Nachdem dies besprochen war, eilte der Regierungsgesandte zum Kommandeur des Ausnahmezustandsgebietes, Abdullah Pasa. Dieser hatte nach Paragraf 33 des Tunceli-Gesetzes die Todesurteile zu bestätigen. Auf siebenundzwanzig vorbereiteten Blankobögen unterschrieb der Kommandeur den Satz Das obige Urteil wird hiermit bestätigt und versah jedes Blatt mit Signatur und Siegel.
    Der Gesandte war zufrieden. Den Erfordernissen des Rechtsstaates war Genüge getan und er und seine Mitarbeiter hatten noch einen ganzen Tag Zeit, um mit Unterstützung des Kommandeurs die technischen Vorkehrungen zu treffen, also Galgen, Henker und Beisitzer herbeizuschaffen und nicht zuletzt reißfeste Stricke und einen Eimer Olivenöl, um sie einzuweichen.
    Zur Mitternacht des folgenden Tages, zur ersten Minute des Montags, trat das Gericht im Gefängnis zusammen, dessen Umfeld mit Autoscheinwerfern ausgeleuchtet wurde. Der übermüdete Richter verkündete seine Urteile. Nur sieben der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, der Rest zu Freiheitsstrafen; einige wurden sogar freigesprochen. Da der Richter im Urteilsspruch nicht den Begriff ›Hinrichtung‹ gebrauchte, das türkische Wort dafür hatten die Angeklagten im Gefängnis gelernt, sondern die ›Todesstrafe‹ verhängte, verstanden die Angeklagten das Urteil falsch und jubelten: Keine Hinrichtung!
    Dann fuhr man mit dem Automobil zum Gendarmeriequartier. Der Polizeidirektor Ibrahim als Stellvertreter des Staatsanwalts und der Sondergesandte nahmen den Anführer des Aufstands, Seyit Rıza, zwischen sich. Für alles war gesorgt. Der Gouverneur, Abdullah Alpdog an, hatte einen Henker aufgetrieben, der zehn Lira je Hinrichtung verlangte und damit nicht zu teuer war.
    Sie führten Rıza in das Gebäude, dessen rissige Wände von Druckluftlampen erhellt wurden. Die Tischchen waren aufgestellt, wie es sich gehörte für Hinrichtungen. Erst als Seyit Rıza diese sah, begriff er seine Lage.
    »Ihr werdet uns erhängen«, stellte er fest und wandte sich dem Gesandten zu. »Bist du extra aus Ankara gekommen, um mich zu erhängen?« Rıza zitterte nicht und lächelte kalt.
    Der Gesandte Atatürks schwieg. Er war erst neunundzwanzig Jahre alt und stand zum ersten Mal in seinem Leben einem Menschen gegenüber, der hingerichtet werden sollte, einem alten Mann von fünfundsiebzig Jahren. Über die Schultern des Delinquenten hinweg beobachtete er durch das Fenster, wie Findik Hafiz auf dem Hof gehenkt werden sollte. Das Seil riss, offenbar hatte es der Henker nicht lange genug im Öl eingeweicht. Der Gesandte stellte sich so vor das Fenster, dass Rıza nicht hindurchblicken konnte; denn das Strafgesetzbuch schrieb vor, dass, sofern mehrere Personen zu erhängen waren, diese nicht den Tod der anderen sehen durften.

     
    Der Staatsanwalt fragte Rıza, wie es das Gesetz bestimmte, ob er beten wolle und welchen letzten Wunsch er habe.
    Rıza schüttelte den Kopf und antwortete: »Ich habe nur vierzig Lira und meine Uhr. Gebt alles meinem Sohn.«
    Dann wurde er nach draußen geführt. Die Scheinwerfer der herbeigeholten Personenkraftwagen beleuchteten den Galgen. Der tote Hafiz war fortgebracht.
    Keine Menschenseele war zu sehen, aber Rıza hob den Kopf und sprach laut, als hätte er eine Menge vor sich: »Wir sind die Nachfahren von Kerbela. Wir sind unschuldig. Es ist eine Schande! Eine Grausamkeit! Ein Mord!«
    Die Worte hallten wider von den Mauern des Hofes. Den Gesandten überlief es kalt.
    Der alte Mann ging mit gleichmäßigen scharfen Schritten auf den Henker zu und stieß ihn zur Seite, bestieg den Stuhl, nahm das Seil, legte die Schlinge um seinen Hals und trat ins Leere.
    »Es ist kalt«, sagte der Gesandte zum Staatsanwalt. »Ich gehe zurück zum Hotel.«
    Seine Stimme zitterte. Seine Nerven waren angegriffen. Aber er hatte seinen Auftrag ausgeführt und alle rechtsstaatlichen Vorschriften eingehalten.

Teil 1
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