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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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allein sind, können wir uns nicht wehren, wir sterben einen namenlosen Tod und verlieren unsere Ehre. Unsere Angehörigen können nichts erzählen. Wenn die neuen Gefängnisse kommen, wird es einen Aufstand geben, wird gemunkelt.

    Der Deutsche braucht keine Amnestie. Dauernd redet er von seinem Konsul. Er sagt es so oft, dass ich es nachsprechen kann. Überhaupt – ich lerne Deutsch. Er und der Österreicher, sie bringen mir ihre Sprache bei und ich ihnen meine. Sie schwärmen von ihren Ländern. Dort gäbe es keine Gemeinschaftszellen, sagen sie. Und die Häftlinge haben keine Angst vor kleinen Zellen. Im Gegenteil, sie beschweren sich sogar, wenn sie in einer Zelle sitzen müssen, in der mehr als vier oder fünf Gefangene sind. Alles genau umgekehrt wie hier.

    Der Franzose redet wenig, denn er versteht niemanden. Deutsch beherrscht er nicht, unsere Sprachen erst recht nicht, und er will sie auch nicht lernen. Der Österreicher spricht ein paar Worte Französisch und ist sein Dolmetscher.

    Der Deutsche hat mir seine Adresse gegeben. Er sagt, in seinem Land ist alles besser. Es würde Rechtssicherheit geben, sagt er. Ein langes Wort, das hat er mir beigebracht. Man dürfe seine Meinung überall kundtun, und jeder in seiner Sprache.

    Hier im Gefängnis von Edirne dürfen wir alle Sprachen sprechen, die Kurden tragen sogar ihre Beutelhosen, die sie Salvar nennen, aber draußen ist das verboten, dort ist nur Türkisch erlaubt, und wer Kurdisch oder Zazaki spricht, ist ein Staatsfeind, der für die Spaltung des Landes eintritt. Es reicht schon für eine Verhaftung, dass man eine Kassette mit kurdischer Musik im Auto liegen hat. Und wer Zazaki spricht und gar noch wie ich ein Rotkopf aus dem Dersim ist, der ist für die Türken ein Terrorist. Auch den Kurden sind wir verdächtig. Einer wie ich gehört nirgendwo dazu. Deshalb nennen sich viele von uns Kurden, obwohl wir keine sind, und manche behaupten sogar, sie seien Türken, obwohl wir das erst recht nicht sind.

    Der Deutsche sagt, in Deutschland gebe es keine Unterdrückung. Wohl deshalb sind von unseren Leuten aus dem Dersim so viele nach Deutschland geflohen, es sollen schon hunderttausend sein, oder in die Schweiz und sogar nach Schweden. Die meisten sagen, es gehe ihnen gut, und sie schicken ihren Familien Geld. Ich wollte es nicht glauben, denn wem ein Wagnis misslungen ist, der mag es nicht zugeben und übertreibt gern.

    Doch mittlerweile glaube ich es auch. Es sind nur noch wenige, die im Dersim leben. Die Türken nennen den Bezirk Tunceli, seit damals, als unsere Leute unter Seyit Rıza den Aufstand gewagt haben und mit dem Tod oder Vertreibung bezahlten.

    Wenn ich hier jemals herauskomme, dann werde ich nach Deutschland gehen, nach Hamburg. Mein Onkel sagt, wo ein großer Hafen ist, dort sind die Menschen freundlicher. Sie sind gewöhnt an fremde Menschen und haben keine Angst vor dunkler Haut und fremden Sitten.

    Ja, wenn ich hier herauskomme – dann gehe ich nach Deutschland, nach Hamburg.

2.
    Es gab keinen Grund, mehr Angst zu haben als sonst. Trotzdem klopfte sich Heyder Cengi den Zementstaub aus der blauen Arbeitsweste, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und trat zum dritten Mal an das offene Fenster im Südgiebel, um einen misstrauischen Blick nach unten auf die Straße zu werfen.
    Nichts. Dieselben Baufahrzeuge wie vorhin. Irgendwo kreischte eine Flex, wahrscheinlich kam der Lärm aus dem übernächsten Block, wo Paul die alten Heizkörper von den Wänden holte. Paul war in Ordnung. Er nahm Cengi morgens mit zur Arbeit und abends wieder mit zurück. Er brachte ihn sogar bis zum Wohnwagen nach Ruthensand, wo Cengi seit dem Sommer wohnte. Der Campingplatzwart ließ ihn einen der Wohnwagen benutzen, als Gegenleistung mähte Cengi den Rasen, schnitt die Hecken und machte das Klohaus sauber. Es war gut, wenn man nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit musste. Nicht wegen der Anfahrtszeit, zweiunddreißig Kilometer hin und zweiunddreißig Kilometer wieder zurück – das war nicht schlimm. In seiner Zeit in Vechta war Cengi monatelang fünfzig Kilometer zur Arbeit gefahren. Und fünfzig wieder zurück. Nein, auf dem Fahrrad fühlte man sich schutzlos. Man war allein. Als würde jeder sehen, dass man keine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Besonders im November. Im November fuhr bestimmt niemand freiwillig mit dem Fahrrad: nur illegale Türken und führerscheinlose Einheimische. Wenn man mit dem Fahrrad fuhr, fuhr die Angst mit. Deshalb war Cengi froh,
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