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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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Haupteingang zum Parkplatz hin befanden. »Ein schönes Arbeiten hier«, sagte er. Er trat an das offene Fenster im Südgiebel. »Sehen Sie mal. Allein die Aussicht!«
    Unten standen die Kumpane des Kontrolleurs, der eine lehnte am Wagen und rauchte. Der andere verdrehte den Kopf, als wollte er Vogelnester zählen.
    Wenn er es vor dem Dicken ins Erdgeschoss schaffte und durch den Hinterausgang fortlief? Vielleicht hatte er eine Chance. Eine sehr kleine Chance. Und nur, wenn der Dicke ihn verfolgen würde, anstatt seine Kumpane von oben aus dem Fenster heraus zu alarmieren.
    »Sehen Sie, da drüben!«, zeigte Cengi aus dem Fenster.
    Der Dicke rührte sich nicht. Helmcke mit c, k interessierte sich nicht für Aussichten. Er bewachte die Tür wie Koukul die Gruft.
    Umständlich faltete Cengi seine Weste.
    Breitbeinig stand Helmcke in der offenen Tür und beobachtete Cengi misstrauisch.
    »Kommen Sie schon«, sagte er. Ungeduld war in seiner Stimme. Sein Atem hatte sich inzwischen beruhigt und er wischte sich den Schweiß von der glänzenden Stirn. Er hatte milchblaue Augen.
    »O Mann, schade um den Mörtel«, sagte Cengi, während er sich langsam dem Vollstrecker näherte. »Der wird mir jetzt hart. Und nachher kann ich die Brocken aus der Balje klopfen. Können wir nicht …«
    »Tut mir leid, aber …«
    Jetzt war Cengi neben dem Beamten. Er bückte sich zu seiner Tasche hinab und spannte alle Sehnen. Dann schnellte er hoch und rammte dem Kontrolleur den linken Ellbogen in den Schwabbelbauch, während er mit der rechten Faust seine Tasche packte und durch die Tür zurück in das Treppenhaus sprang.
    Der Beamte keuchte, schnappte zusammen, fuchtelte mit den Armen, erwischte die Tasche und hielt sie fest wie ein Terrier die Ratte, stolperte hinter Cengi her bis vor den Absatz der Treppe.
    Heyder Cengi kämpfte um sein Eigentum. Aber der Be-amte ließ nicht los. Sie drehten sich wortlos umeinander und knurrten sich an wie zwei brünstige Kater. Der Beamte langte mit einer Pranke nach Cengis Brust. Cengi ließ die Tasche fahren und stieß seinen Gegner mit beiden Fäusten von sich. Helmcke geriet ins Stolpern, torkelte Richtung Treppenabsatz und hielt sich im letzten Moment am Geländer fest. Die Tasche polterte zu Boden.
    »So haben wir nicht gewettet«, zischte Helmcke und blockierte breitarmig wie ein Sumo-Ringer den Treppenabgang.
    Cengi bohrte seine Augen in die seines Feindes, machte einen Satz und brachte mit einem Griff die Tasche wieder in seine Gewalt. Aber wie sollte er jetzt an dem Kerl vorbeikommen? Plötzlich blitzte ihm die Erkenntnis auf, dass gestern auf der anderen Seite des Dachbodens das Dach für eine Loggia geöffnet worden war und seit vorgestern das Gerüst an der Fassade stand. Ein Fluchtweg. Die einzige Möglichkeit. Die Kumpane des Dicken standen mit ihrem Auto auf der Vorderseite des Hauses, vielleicht konnte er unbemerkt auf der Rückseite hinuntersteigen. Wenn er schnell war …

    Bevor er weiterdenken konnte, hatte Cengi sich umgedreht und die Eisentür auf der anderen Seite des kleinen Flurs am Kopfende der Treppe aufgerissen. Als die Tür hinter ihm zuknallte, hatte er den Bodenraum schon fast durchquert, er sprang durch das Loch im Dach hinaus auf das Gerüstbrett, wandte sich nach links und hastete außen an der Fassade entlang. Die Leiter nach unten – wo war der Niedergang? Hinter sich hörte er das angestrengte Schnaufen des Dicken.

    Cengi umrundete die Hausecke, dort müsste er nach unten kommen können, hoffentlich sahen ihn die beiden anderen nicht.
    Aber es gab hier keinen Niedergang. Er war in die falsche Richtung gelaufen. Er war gefangen. Er hatte den Fluchtweg nicht erkundet. Er hatte sich zu sicher gefühlt, er …
    An der Hausecke rannten sie ineinander. Helmcke hieb seine fetten Pranken in Cengis sehnige Schultern und zerrte ihn zurück zur Loggia. Der Dicke war Spross eines Altländer Obstbauerngeschlechts und ließ niemals los, was er einmal in Händen hielt, Äpfel oder Geld – oder einen armen Anatolen, der Angst vor Verhaftung, Abschiebung und Folter hatte.
    Sie kämpften verbissen, ohne Worte, um jeden Zentimeter.

    Cengi verlor, der Vollstrecker zerrte ihn Stück um Stück zurück, bis Cengi sich mit beiden Händen an einer der senkrechten Gerüststangen festklammerte. Die Panik verlieh ihm die Kraft, die Knie hochzubringen, er stemmte sie dem Dicken vor die Brust und gewann etwas Raum.

    Und dann …
    »Ohh!«
    Plötzlich war der Dicke weg.
    Cengi ließ los. Er
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