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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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dem Lesen abseitiger Bücher zu verbringen, möglichst mit einer Tasse gutem Tee. Lesend lernte man; Länder, Landschaften, Städte und Völker waren aus der Verborgenheit jenseits der gefallenen Grenzen wieder aufgetaucht, mit neuen Namen. Und mit ihnen die Literaturen, ein halber Ersatz für Reisemuffel wie Schlüter, die glaubten, dass man seit der Erfindung des Buchdruckes Erfahrungen nicht mehr selbst machen musste. Seine letzte Reise mit Christa ging vor vier Jahren nach Oslo, damals, nachdem er die Sache Kaczek gegen von Rönn überstanden hatte. Ein Einzelkämpfer konnte sich keinen Urlaub leisten, denn einer Vertretung traute Schlüter nicht, abgesehen von den Kosten. Er war unentbehrlich. Der Gedanke an freie Tage mitten in der Woche machte ihm Angst.
    Schlüter beschloss, wenn er denn schon nicht zum Nordpol gehen konnte, wenigstens eine Runde am Burggraben entlang zu machen, bevor er in den Gerbergang heimkehrte. Man bewegte sich ja sonst nicht. Man wurde älter und setzte an. Sollte er sich mit seinen mittlerweile deutlich mehr als fünfzig Jahren etwa eine pink Hose mit bonbonfarbenen Nähten und reflektierenden Rallyestreifen anziehen und im Stadtpark zwischen den Enten herumrennen? Nein! No sports. Schlüter ging spazieren und hinterher würde er Björnsson lesen, einen vergessenen Dichter, den man zu seiner Zeit in den Städten Europas als Aufrührer und Frauenbefreier gefeiert hatte, in Paris, Berlin, Wien – und wahrscheinlich auch Bratislava, als es noch Pressburg hieß und seine Juden noch nicht ermordet und seine Ungarn noch nicht vertrieben waren. Björnsson stammte aus einer kleinen Stadt weit im Norden, die damals nicht größer als das Hemmstedt von heute gewesen war und keine 40.000 Einwohner gezählt hatte. Von diesem Kaff namens Bergen hatte sich Björnsson die Welt erobert. In Oslo hatte Schlüter einer zehnbändigen Gesamtausgabe nicht widerstehen können, obwohl er kein Wort Norwegisch konnte, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sprache zu lernen, wollte er sich nicht dem Spott seiner Frau aussetzen. Er hatte zunächst heimlich begonnen und nach den ersten Fortschritten offen unter Christas Augen weitergemacht. Zurzeit buchstabierte er sich durch die Erzählung Synnöve Solbakken mithilfe eines Wörterbuches und einer deutschen Übersetzung, die er im Hemmstedter Antiquariat entdeckt hatte. Die jungfräulichen Seiten des Buches schnitt er mit einem Federmesser altmodisch auf.
    Oslo, Bergen, Bratislava. Die Konzertkarten. Frau Elfers, die nicht wusste, woher die Musiker kamen, war die eine der beiden guten Töchter der Erna Rathjens, der Engelsmoorer Altbäuerin, die, jämmerlich krepiert vor fünf Jahren, nicht zur Ruhe kam, weil ihre Kinder um ihren Grabstein prozessierten. Die guten Töchter hatten die Beerdigung bezahlt und verlangten von ihrem Bruder, Hans-Herrmann Rathjens aus Engelsmoor, er möge sich an den Kosten beteiligen, exakt zu einem Drittel; sie wollten sich nicht bereichern, sondern nur haben, was ihnen zustand. Alle wollten immer nur haben, was ihnen zustand. In diesem Land von Gerechtigkeitsfanatikern ein weit verbreiteter Wunsch, der stets für Zwist sorgte und den Rechtsanwälten Brot und Arbeit verschaffte. Wie viel stand einem zu? Das war die Frage, die auch die Justiz nicht beantworten konnte, sooft man sie ihr auch stellte, denn von ihr bekam man keine Gerechtigkeit, sondern nur Urteile.
    Hans-Herrmann Rathjens wollte nicht bezahlen, weil er weder die Musik bestellt habe, womit er wohl den Pastor meinte, noch zur Beerdigung der alten Hexe erschienen sei, wie er seine Mutter nannte. Aber er freute sich über das Ansinnen, denn so konnte er es mit Inbrunst zurückweisen und hatte endlich wieder einen Streit, der das Leben lebenswert machte. Hans-Herrmann Rathjens brauchte Streit wie die Luft zum Atmen und nun war das verrostete Familienbeil ausgegraben, frisch geschärft und Schlüter zur Schlacht übergeben worden. Fast täglich fand er eng beschriebene Zettel in seinem Briefkasten, die Rathjens spätabends nach dem Melken verfasst, nach Hemmstedt transportiert und eingeworfen hatte.
    Schlüter verdankte die Konzertkarten also der toten Erna Rathjens. So musste er Christa keine Blumen kaufen zum sechsunddreißigsten Hochzeitstag und lud sie zum Konzert ein. Er mied sonst alle Zusammenkünfte, an denen mehr als drei Menschen teilnahmen, er bekam Platzangst bei jeder größeren Versammlung, schon Gerichtsverhandlungen brachten ihn an seine Grenze.
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