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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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es mit beiden Händen an die Wand und schliff in geschwungenen Achten über den Putz, zuerst abwärts, dann wieder aufwärts, drückte die Unebenheiten auseinander. Er hörte nur das sanfte Schmirgeln des Bretts über den fester werdenden Putz und seinen stoßweisen Atem. Zwischendurch ließ er das Brett sinken, trat einen Schritt zurück, prüfte das Ergebnis seiner Arbeit mit zusammengekniffenen Augen und horchte dabei instinktiv nach ungewohnten Geräuschen. Das war ihm zur Gewohnheit geworden, denn die Angst begleitete ihn Tag und Nacht, seit er aus dem Gefängnis freigekauft worden und mit falschen Papieren nach Deutschland geflohen war.
    Putzen musste man können. Eine Arbeit, die man nicht mit Maschinen machen konnte, deren Ergebnis aber so aussehen sollte, als sei sie mit der Maschine gemacht worden. So war das hier. Dafür brauchte man zwei Fäuste an lockeren Handgelenken und im Auge eine dreidimensionale Wasserwaage. Die Leute waren anspruchsvoll in Deutschland, das könnte man zu Hause in Pulur niemandem erklären. Cengi legte das Putzbrett über die Balje. Dabei rechnete er aus, wie lange er den Mörtel noch würde verarbeiten können, bevor Riefen entstanden, weil er zu fest geworden war. Die Sonne, die durch die Fenster schien, heizte den Raum noch erstaunlich auf.
    Plötzlich hörte er laute Stimmen. Cengi machte zwei lange Sätze zum Fenster. Der blaue Wagen stand vor dem Haus, der verdammte harmlose blaue Wagen. Drei Leute waren ausgestiegen und einer von ihnen ging auf die Eingangstreppe zu. Cengi riss seine Tasche an sich und stand mit einem Sprung im Treppenhaus. Von unten hallten die entschlossenen Schritte eines Mannes hoch, der in dreißig Sekunden vor ihm auftauchen würde.
    Zu spät. Er steckte in der Falle.
    Katzenleise wich Cengi zurück, zog die Tür zum Treppenhaus bis auf einen Spalt zu, stellte seine Tasche neben die Schwelle an die Wand. Zog das Putzbrett aus dem Mörtel. Begann zu reiben, während er die Schritte näher kommen hörte. Fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Haarwurzeln trat.
    Sie dürfen mich nicht kriegen, sie dürfen nicht.

    Mit hämmerndem Herzen zwang er sich zur Arbeit. Die Tür wurde aufgeschoben. Cengi täuschte Überraschung vor, hielt in seiner Arbeit inne, das Putzbrett noch an der Wand. Ein schwerer Mann mit strähnigen blonden Haaren und fettglänzender Stirnglatze stand in der Tür. Er war mehr als einen Kopf größer.
    »Guten Tag«, sagte Cengi höflich und zog die Augenbrauen fragend hoch.
    »Guten Tag«, erwiderte der Dicke. »Sie – arbeiten hier?« Er atmete rasselnd und schwitzte. Der Mann war nicht in bester Form.
    »Ja, wie Sie sehen.« Cengi schlenkerte mit der Rechten, als würde er Mörtelreste abschütteln, und ließ das Putzbrett locker herunterhängen. »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Mein Name ist Helmcke. Helmcke mit c, k. Ich komme vom Arbeitsamt.« Er hatte ein fettes Gesicht, falsche Zähne und bleiche Bürokratenfinger, die aussahen wie Würste.
    »Ah ja.« Cengi setzte das Putzbrett wieder an.
    »Sozialversicherungskontrolle«, erklärte Helmcke mit c, k. »Wir prüfen, ob Sie eine Arbeitserlaubnis haben und als sozialversicherungspflichtig gemeldet sind. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?«, fragte er und griff in die Jackentasche.

    »Nein, tut nicht nötig.«
    »Haben Sie eine Arbeitserlaubnis?«, fragte der Kontrolleur.

    »Ach so«, machte Cengi. »Natürlich! Sie wollen meine Papiere sehen, verstehe ich das richtig?«
    »Das verstehen Sie sehr richtig«, nickte Helmcke. Er trat von einem Fuß auf den anderen und sein Bauch schwabbelte.

    »Mönsch, so ’n Scheiß. Die habe ich leider nicht hier«, erklärte Cengi bedauernd und sah dem Mann mit der Andeutung eines Lächelns in die Augen. »Die sind zu Hause. Würde es Ihnen ausreichen, wenn ich sie morgen mitbrächte – so um die gleiche Zeit?«
    »Nein. Leider nicht. Meine Anweisungen … Ich müsste Sie sonst …« Der Dicke sprach nicht weiter, aber Cengi verstand ihn trotzdem sehr gut.
    »Tja«, sagte Cengi und legte das Putzbrett auf die Balje. »Dann müssen wir eben …«, er zog sich die Weste aus und klopfte sie über den Knien aus, »… hinfahren. Zu mir nach Hause, meine ich. Meinen Sie, dass das geht?«
    Helmcke nickte. »Müssen wir denn eben«, sagte er und blieb stehen wie festgewachsen, mitten in der Tür. »Hauptsache Sie zeigen mir die …«
    Während in seinem Kopf die Gedanken rasten, ging Cengi in einem großen Oval an den Fenstern entlang, die sich über dem
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