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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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Trägheit aufgewacht ist.
    »Zirndorf.«
    »Oh Gott!«, sagt meine Mutter.
    »Allerdings.«
    »Was steht drin?«
    »Warte.«
    Ich hasse es, wenn sie mich sofort mit Fragen bombardiert, die ich ihr nicht beantworten kann. Schnaufend versuche ich den Absenderstempel zu entziffern, und es wird mir langsam immer klarer, was der Brief bedeutet. »Mutter, das ist ein wichtiger Brief …«
    »Ja?«
    Sie holt rasch eine Zigarette aus dem Päckchen, das auf dem Tisch liegt, und steckt sie nervös an. Sie wirkt klein und verängstigt, ein nasses Käferchen. Sie sagt das »Ja« so leise, als wünsche sie sich, dass ich es nicht höre. Ich möchte sie umarmen und trösten. Aber ich tue es nicht, weil sie mich auch irgendwie nervt mit ihrem Gejammer.
    »Ein furchtbar wichtiger Brief, Mama.«
    Mutter wendet den Kopf zum Fenster und zieht kräftig an ihrer Zigarette.
    »Muss uns diese Frau den Heiligen Abend versauen, das ist wohl das Letzte. Mach ihn auf …«
    Ich lese. Ich lese lange. Verstehe nur Bruchstücke. Bruchstücke, die ich mühsam versuche zusammenzusetzen. Mutter schweigt und starrt mich an. Ihr Herz steht still. Ich lese noch mal. Ich will es genau wissen. Von der Fensterbank hole ich das deutsch-tschechische Wörterbuch, will mich vergewissern, dass ich mich nicht irre. Noch einmal kaue ich Wort für Wort durch, ich möchte meine Mutter nicht mit einer falschen Hoffnung belasten.
    Dann schaue ich sie an.
    »Mami, wir haben Asyl bekommen … beide.«
    Mama sagt nichts, schaut nur zu Boden. Ich beachte sie kaum, weil ich nach wie vor das Geheimnis des Briefes zu lüften versuche.
    »Warum weinst du, Mama?«
    Sie steht auf, antwortet nicht, holt sich ein Taschentuch und schnäuzt sich kräftig.
    »Ich verstehe dich nicht, Mama. Bist du nicht froh?«
    »Das war’s wohl.«
    »War wohl was?«
    »Jetzt kommen wir nie wieder nach Hause. Gemeinsam.«
    »Willst du das, Mutter?«
    »Ich hatte gehofft, dass …«
    »Willst du zurückgehen?«
    Sie schweigt. Weint. »Wenn du hier nicht bleiben willst, dann …«
    Sie weint noch mehr. »Mama, ich bin schon siebzehn. Du sollst dein Leben nicht für mich opfern.«
    Sie weint nur. Wir sitzen schweigend nebeneinander.
    »Ich kann nicht gehen«, sagt sie dann leise. »Ich kann … ich kann dich hier nicht allein lassen. Wenn du nicht mit nach Hause kommst, dann ist dort nicht mein Zuhause. Du bist mein Zuhause. Niemand ist dort, der mich halten würde. Das wirst du erst verstehen, wenn du eigene Kinder hast. Eine Mutter liebt ihre Kinder bedingungslos.«

ENDE VOM ANFANG
    Es ist wohl immer so, dass man sich über Dinge, die man so sehr herbeisehnt, gar nicht freuen kann, wenn sie plötzlich da sind. Vielleicht, weil sie unerreichbar schienen. Weil sie nicht realistisch und greifbar waren. Weil man sich auf das Alte, Gewohnte, Sichere eingestellt hatte und es akzeptierte. Alles, was neu ist, macht Angst.
    Ein großes, übergroßes Tor öffnet sich, und wir sind nicht imstande, die Türschwelle zu übertreten. Wir hätten geweint über die Abschiebung, wir weinen ebenfalls über das Asyl. Nicht aus Glück, sondern der Veränderung wegen, wegen all dessen, was wir bereits erlebt haben. Wegen des Karussells im Herzen, der Enttäuschung, der Erkenntnis, des Verlusts, des Erwachsenwerdens. Unsere Naivität ist dahin, weggeflogen, was übrig bleibt, ist die Realität. Sie erwartet uns, egal, wohin wir gehen, wir haben unsere Vergangenheit hier verloren. Freunde, Familie, die Muttersprache, unsere Wurzeln. Jetzt segeln wir ziellos durch die Wirrnis der Fremde und müssen es aushalten. Wir haben es so gewollt.
    Am 3. Januar 1987 packen wir unsere Sachen, steigen in den gelben Fiat und fahren nach München. Wir bereuen nicht, wir wissen.
    Zwei Jahre später heiratet meine Mutter einen tschechischen Zahnarzthelfer und lebt seitdem mit ihm in München.
    Weitere zwei Jahre später beginne ich mein Studium an der Otto-Falkenberg-Schule in München, einer der renommiertesten Schauspielschulen Deutschlands.

NACHWORT
    Ich sitze auf einem Holzstuhl. Mir gegenüber sitzt ein Junge aus dem Kosovo. Er strotzt vor Energie. Sein hübsches Gesicht wird ihm in unserer Gesellschaft vielleicht manches erleichtern. Aber vielleicht stellt er sich ungeschickt an und muss in zwei Jahren einen mies bezahlten Job annehmen. Von einer Hauptschule hat man es nicht leicht, Karriere zu machen. Zumal, wenn man ein Kosovo-Albaner ist. Ich schaue ihn oft an, nein, meine Augen suchen ihn unbefangen. Ohne Hintergedanken, ich
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