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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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die versucht hat, das Gespräch an sich zu reißen.
    »Ich durfte nicht Schauspielerin werden.«
    Herr Potocky schweigt. Ich denke, dass er nicht zu glauben vermag, was ich da für wirres Zeug schwafele.
    »Was hat das mit Ihrer Emigration zu tun?«
    »Viel. Meine Mutter besaß nichts, um die Dozenten dafür zu belohnen, dass sie mich zumindest ordnungsgemäß anhören. Sie hatte auch keine Beziehungen zu den Künstlerkreisen, um bei der Schule für mich einen Vorteil zu erwirken. Eine absolute Notwendigkeit, wissen Sie, Herr Potocky? Talent zählt nicht, habe ich mir von einer Studentin anhören müssen. Als ich Tennessee Williams vorgesprochen habe, wurde ich diskriminiert, weil er ein amerikanischer Autor ist, obwohl er großartig schreibt, Herr Potocky. Kennen Sie Tennessee Williams?«
    Herr Potocky verzieht keine Miene.
    »Die, die einen russischen Autor im Repertoire hatten, wurden bevorzugt behandelt, obwohl es manchmal der letzte Mist war. Meine Mutter wurde regelmäßig von meinem Schuldirektor schikaniert, weil sie immer noch nicht in die Partei eingetreten war. Ihre Tochter sollte an Festtagen Gedichte von Puschkin rezitieren, statt Rock ’n’ Roll in einem Verein zu tanzen, dessen Leiter ohnehin ein Dorn im Auge der Kommunisten ist. Unter uns, ich war die Einzige, die es wagte, vor fünfhundert Menschen in der Aula aufzutreten, sonst hätten die Herren Genossen auf Puschkin verzichten müssen. Ich hasse Puschkin, Herr Potocky. Kennen Sie Puschkin?«
    »Den kenne ich.«
    »Und als das Atomkraftwerk in Tschernobyl explodiert war, scheuchte man uns Kinder, das war der 1. Mai, das weiß ich noch ganz genau, bei prasselndem Regen auf die Straßen, damit wir Transparente von Husák, Lenin und Marx hochhalten und verlogene Slogans ausrufen. Das war die Tschernobyl-Wolke, die auf uns regnete. Die Regierung wusste das! Von Tschernobyl haben wir ausschließlich von ›Radio Freies Europa‹ erfahren. Jeden Abend saßen wir im Wohnzimmer und hörten leise den von den Kommunisten gestörten Sender.
    So erfuhren wir, was eigentlich geschah, denn offiziell galt der Supergau in Tschernobyl als nicht erwähnenswert, vollkommen unbedenklich. Wir hofften, dass uns unsere Nachbarn nicht anzeigten, denn trauen konnten wir ihnen nicht, obwohl sie so taten, als wären sie unsere Freunde. ›Radio Freies Europa‹ zu hören war strengstens verboten.«
    Herr Potocky hört sich die ganze Stunde, die ich spreche, an, ohne mich zu unterbrechen. Er übersetzt nicht, obwohl Herr Kratzmann äußerst neugierig ist. Er schaut mich an und hört mir zu. Schon ewig hat mir niemand mehr so lange zugehört. Selbst meine Mutter beruhigt sich allmählich. Sie zittert nicht mehr, mischt sich nicht ein, ist ganz artig.

WEIHNACHTEN ZU ZWEIT
    24. Dezember. Mama brät vier panierte Karpfenfilets. Das Zimmer ist vollgeraucht, das heiße Fett stinkt bestialisch. Unser Alltag in diesen acht Monaten verselbstständigt sich auf eine merkwürdige Art. Einerseits wissen wir, dass das Leben nicht so weitergehen kann, denn früher oder später würden wir verrückt werden, wie die meisten hier, die zu lange warten müssen. Andererseits können wir uns ein anderes Leben als dieses hier im Sporthotel nicht mehr vorstellen. Die Vergangenheit, unsere Heimat, ist meilenweit von uns entfernt, die Gegenwart dagegen ist zur Gewohnheit und Normalität geworden.
    Mit Drobina korrespondiere ich ab und zu. Selbst die komanços sind müde geworden, sie haben sich an meine Briefe aus Deutschland gewöhnt. Ich schreibe Drobina seit dem Vorfall mit dem ersten Brief mit Milde. Auch komanços sind Menschen, es ist ihnen langweilig geworden, ihr Eifer lässt nach, und so kommen meine Briefe direkt bei Drobina an. Sie schreibt mir, sie hätte einen Typen kennengelernt, einen Seemann. Er heißt Peter. Ich kenne ihn nicht. Wahrscheinlich ist es die letzte Station ihres Liebes- und Lebensabenteuers, und das ist wohl gut so. Sie suchte immer einen festen Freund, den Vater ihrer Kinder, Geborgenheit und Sicherheit. Selbst wenn sie erst achtzehn ist. Leider sind wir nicht mehr so vertraut, wie wir es früher waren. Der verdammte Brief ist schuld daran. Ich schreibe einer anderen Drobina als der, mit der ich die meiste Zeit meiner Jugend verbracht habe, und sie schreibt nicht mehr ihrer besten Freundin Lenka, wegen der sie so sehr geweint hat, als sie erfuhr, dass sie emigrieren wird, sondern einer ehemaligen Freundin, mit der sie eigentlich kaum mehr etwas gemeinsam hat.
    Die
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