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Papierkuesse

Papierkuesse

Titel: Papierkuesse
Autoren: Pali Meller
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10 wieder siehst, grüße sie schön von mir. Und Du sei Millionen Mal geküsst und umarmt von Deinem Papa.
    Liebster Pila! Auf Deinen Brief habe ich viel und recht lang zu antworten. Zuallererst muss ich Dir sagen, dass mich Eure Radtouren sehr freuen und ich solche Tagesausflüge mit Zelt herrlich finde – abgesehen davon, dass sie mir (wie in meinem letzten Brief schon erwähnt) für Dich wichtig erscheinen. Nun gibt’s bald Badewetter und dann ist für Abwechslung gesorgt.
    Du schreibst, dass Du »den netten Schwung« in Brief und Gedicht »verlernt« hast und Angst hast, mir ein Gedicht zu zeigen. Etwas Schuld an dieser Geschichte habe aber ich. Es gibt eine wunderschöne Geschichte von Gustav Meyrink über den Tausendfüßler. 11 (Ich glaube, Du kennst diese Käfer mit vielen Füßen.) Einneidischer Frosch, der sich über die vielen Füße des Käfers ärgerte, fragte ihn nun wie folgt: »Sag mal, du Tausendfüßler, wie machst du das? Ich verstehe schon gut, dass du jeden zweiten Fuß rechts und jeden dritten Fuß links gleichzeitig hebst – auch sehe ich ein, dass die geraden Zahlen rechts, und die ungeraden Zahlen links gemeinsame Sache machen müssen, aber rätselhaft bleibt es mir, was jene deiner Füße machen, deren Zahl sich durch gerade wie durch ungerade Zahlen teilen lassen?« Der Tausendfüßler stand ganz entsetzt vor diesen Fragen und dachte zum ersten Mal im Leben über die Frage seiner Fortbewegung nach – aber wehe ihm!! Nachdenken bekam ihm nicht – er verhedderte seine Füße und blieb wie erstarrt stehen. Das war die Rache des Frosches. – Ich habe Dir so viel über Reim und Rhythmus, Gedanke und Sprache, Form und Inhalt, zuletzt noch über Kunst geschrieben, dass es Dir ging wie dem Tausendfüßler – Dein Mut ist eingefroren. Darum will ich mit dieser Form der belehrenden Kritik aussetzen, obzwar ich Dich bitte, die alten Briefe nochmals durchzulesen und über das bereits Gesagte nachzudenken. Dann wird sich alles durch die Kritik und Prüfung Aufgerührte legen, und das Leichtbeschwingte und Ursprüngliche wird wieder aus Dir hervorbrechen. Und das Neue wird dann doch besser und tiefer sein als das Gewesene, weil sich Schöpfungsdrang und Wissen zu einer Einheit geballt haben werden. Und dies war mein Ziel! Ich bin ja kein neidischer Frosch und Du kein Tausendfüßler! Zu Deinen drei Erlebnissen will ich Dir nun Einiges sagen. Zur Ersten »Die Geschichte mit der Frau«. Zum Verständnisdieser eigentümlich erscheinenden Gegebenheit musst Du Folgendes wissen:
Erstens
, die Wissenschaft hat festgestellt, dass Träume, die man hat, und wenn sie auch unendlich lang scheinen (z. B. eine Geschichte beinhaltend, die sich über Jahre erstreckt), nur Sekunden, ja oft nur Teile von Sekunden dauern. Das Hirn als Zentrum unserer Vorstellungswelt ist also fähig, blitzartig Bilder oder auch Filme entstehen und vergehen zu lassen.
Zweitens,
etwas sehen bedeutet einen Vorgang, wobei Lichtstrahlen, die die Umwelt reflektieren, in unser Auge kommen und dort einen genügend großen Reiz ausüben, um in unserem Bewusstsein bemerkt und aufgenommen zu werden. Nun fallen unendlich mehr Lichtstrahlen (die bereits Körper bestrahlt haben) in unser Auge, als wir bewusst wahrnehmen – und so geschieht jetzt mit Berücksichtigung dessen, was ich unter 1. gesagt habe Folgendes: Du gehst auf der Straße in der Stadt, und eine Frau fällt Dir auf. Sie bleibt Dir in der Erinnerung haften. Dann gehst Du mal spazieren, und in großer Entfernung biegt nun diese Frau um die Ecke. Da Du ein wenig döst (also in einem traumähnlichen Zustand bist), dringen die Lichtstrahlen, die die Erscheinungsform der Frau ausmachen, in Deine Augen nicht stark genug, um Dein Bewusstsein zu wecken, aber doch stark genug, um Erinnerungsbilder zu wecken. Du denkst also scheinbar zufällig an die Frau! 1/10 Sekunde später (Dir schien es eine lange Zeit) siehst Du die Frau erst bewusst – sperrst den Mund auf und denkst, es war ein Wunder. Man nennt diese Erscheinung »déja vu«, d. h. »schon gesehen«.
    Das Erlebnis Obernigk ist nun fast dasselbe. Du siehst Haus und Menschen zweimal ganz schnell hintereinander. Das erste Mal nicht ganz, das zweite Mal ganz bewusst. Und plötzlich erinnerst Du Dich beim bewussten Erkennen an das unbewusste Erlebnis und fertig ist das »déjà vu«.
    Was aber das dritte – das Kulosa-Erlebnis – anbelangt, so komme ich mit dem »déjà vu« nicht aus. Und das ist auch ganz gut so. Es begegnen einem
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