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Papierkuesse

Papierkuesse

Titel: Papierkuesse
Autoren: Pali Meller
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im Leben immer ungeklärte, unerklärbare Ereignisse – die gerade durch dieses Unerklärbare zum Erlebnis werden! Und das sind dann die lebendigen Farbflecke in einem sonst »grau in grau« gehaltenen Alltagsbild. – Zuletzt noch was: ich will Dir keine Grenzen setzen, die da sagen – darüber sollst Du – und darüber sollst Du nicht nachdenken. Bei allem musst Du aber wissen, dass ich bei Dir bin, dass ich Dir helfen will und vielleicht auch kann, wenn Du mir nur immer alles schreibst, was Dich beschäftigt oder gar bedrückt. Und nun sei tausendmal geküsst von Deinem auf Nachricht wartenden Papa. Liebe Franzi, wieder kein Platz für Sie, außer meinen herzlichsten Grüßen in großer Dankbarkeit PM.

[11]
    Bln. Plötzensee, den 7.   6.   42
    Haus III
     
    Meine Lieben! Geliebte olle Barra! Ich gratuliere Dir zum »Ohne–Arme«. Ich bin ganz richtig stolz auf Dich. Schade, dass ich ihn nicht sehn kann – aber vorstellen kann ich ihn mir ungefähr. Schwerer fällt es mir schon, mir einen Flick–Flack mit einem Arm vorzustellen. Der scheint mir noch gefährlicher zu sein. Man vertraut dem Arm – und wenn er einknickt, so landet man mit Schwung auf dem Kopf. Gib nur ja Acht!! Bei Tatjana werden wahrscheinlich bald die Sommerferien beginnen – und auch Deine Schule dürfte in vier Wochen die Türe schließen. Dann machst Du mal richtig Ferien. Bloß ein bisschen Training, um nicht steif zu werden, und wöchentlich einen Brief an mich, um das Schreiben nicht zu verlernen. Sonst nur Spiel, Bad und Radtouren. Es ist ja plötzlich Hochsommer geworden und mit Spannung warte ich auf den ersten Bericht über Euren ersten diesjährigen Schwimmausflug. Du musst mir das ganz genau erzählen und beim Schwimmen daran denken: »langsam aber feste«, »geschlossene Hände«, »Wasser nach außen schlagen …«
    Bald habe ich Geburtstag und werde keinen Gutenmorgenkuss von Euch haben. Aber geschenkt wird nichts! Heb ihn mir gut auf – eines Tages komme ich und hole mir alle versäumten Küsse… Bis dahin bleibt es bei Papierküssen – und davon schickt Dir diesmal 365 Stück Dein Dich liebender Papa. Liebster Pila! Dein Ausflugsbrief war sehr lustig und lebendig, ich konnterichtig mitfahren beim Lesen – ich hoffe, dass sich Dein Rad reparieren lässt, damit Dir im Sommer solche Genüsse nicht entgehen. Franzi muss sich dahinter klemmen, und mit Geld und guten Worten wird man schon jemand finden, der den Schlauch – und wenn es sein muss mit 100 Flicken – wieder dicht kriegt. Und den Sattel recht hoch, damit Deine Beine sich strecken. Und jetzt genug mit den guten Ratschlägen.
     
    In ein paar Tagen werde ich Geburtstag haben. Du weißt, dass ich keinen allzu großen Wert auf diesen Tag lege, aber dieser hat schon das Besondere, dass es der vierzigste ist; d. h. (und mein Freund legt besonderen Wert darauf), es ist das einundvierzigste Mal, dass man Geburtstag hat, wenn man vierzig Jahre alt wird. Es gibt ein Buch, das ich zwar nie gelesen habe (auch den Autor kenne ich nicht), aber in dessen Titel ich mich verliebt habe. Es heißt: »Das Leben beginnt mit 4o«. 12 Warum und wieso, weiß ich nicht, aber ich will hoffen, dass es bei mir so ist, oder besser gesagt – wird! Manchmal erscheint mir mein Leben – ganze vierzig Jahre – unendlich lang; manchmal ist es mir – beim Einstellen des Scheinwerfers der Erinnerung auf einen beliebigen Punkt der Vergangenheit –, als ob dies gestern gewesen wäre. Ich war so alt, wie Du jetzt bist, da war meine erste große Reise mit den Eltern nach Oberitalien. Herrliche Worte »Mezzolombardo«, »Molveno« klingen mir im Ohr, ein zauberhafter dunkelblauer See zwischen Bergriesen wechselt mit dem Bild eines berauschend schönen Obstmarkts im Süden; sogar die Nase ist erfüllt vom süßen Geruch der gelbenÄpfel. Plötzlich ein Menschenauflauf, Schreien, Gestikulieren! Was ist los? Krieg zwischen uns und Serbien: Der Weltkrieg brach aus. Das war 1914. War’s vor 28 Jahren oder erst gestern? Dann wieder ein Bild: blauer Himmel, viel Schnee: es ist Weihnachten 1918 am Semmering. Der Krieg ist aus, der Krieg ist verloren. Ich sehe die großen braunen Augen meiner Mutter und höre, wie sie sagt: »Es ist kein Friede – es kommt die Revolution«. »Krieg« war ein Wort, »Revolution« ein anderes; fast so mysteriös dunkel, wie die Worte »Mezzolombardo« oder »Molveno« hell und freudig waren. Und wieder etwas später: Abitur – und dann Wien. Das war im Jahr 1920. Zum
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