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Pandaemonium - Die Letzte Gefahr

Pandaemonium - Die Letzte Gefahr

Titel: Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Autoren: Alexander Odin
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Käfig in eine Ecke des Zimmers flog, sah er zunächst durch das Fenster die nächtlichen Lichter der friedlich schlafenden Stadt. Dann fiel sein Blick auf die alte Frau: Im Schein der altmodischen Stehlampe riss sie einem seiner toten Käfiggenossen den Kopf ab und steckte ihn sich in den Mund.

5
    BERLIN, S-BAHN,
21. NOVEMBER
    Dem Jungen mit dem ausdruckslosen Gesicht, der Baseballmütze und dem viel zu großen Kopfhörer, aus dem laute, schnelle Rhythmen dröhnten, ging es schlecht. Seine Gefühle hingen in der Luft. Sigmund Witter, der ihm gegenüber in der S-Bahn saß, konnte sie sehen: eine schwarze Wolke, die aus dem Mund und der Nase des Jungen strömte und nach oben in den Raum schwebte, wo sie sich ausbreitete.
    Er konnte sie riechen … ein süßlicher Fäulnisgeruch in der Nase.
    Er konnte sie schmecken … irgendwie feucht und pelzig auf der Zunge, bitter wie Wermut.
    Er konnte sie fühlen … ein Druck, so schwer, als säße ein Nachtalb auf seiner Brust.
    Sigmund Witter saß mit offenem Mund regungslos auf seinem Sitz. Er wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu rühren, und betrachtete die vielen anderen Gefühlswolken, die über den Köpfen der Fahrgäste waberten: die grau-schwarze Wolke über der Frau in dem Businesskostüm, die gleichgültig dreinblickte; die grün-rote Wolke über der Punkerin, die vor sich hinsummte; die blaue über dem Gitarrenspieler, der singend durch den Gang lief, und auch die gelbe über dessen Freundin mit den roten Haaren, die Geld für die musikalische Darbietung einsammelte und den Fahrgästen einen ramponierten Pappbecher unter die Nase hielt.
    Er konnte sich keinen Reim auf die Wolken mit den unterschiedlichen Farben und Gerüchen machen, die er erst seit Kurzem überall in der Stadt über den Menschen schweben sah. Warum er sie plötzlich wahrnahm, war ihm völlig egal. Er hatte noch nie Drogen genommen – aber genau so musste es sich anfühlen. Berauschend. Betörend. Ekstatisch. Die neue, extrem süchtig machende Superdroge »Gefühle«, die nur er, der Auserwählte, in sich aufsaugen durfte.
    Ich bin jetzt ein Gefühlsjunkie , fuhr es ihm durch den Kopf.
    Alles hatte vor einigen Monaten angefangen mit der Diagnose »Glioblastom«. Er erinnerte sich noch ganz genau, wie er eine Woche nach seiner offiziellen Verabschiedung in den Ruhestand vor einem Arzt im weißen Kittel saß, der ihm mit ernster Miene den niederschmetternden Befund mitteilte.
    »Wir werden vor der Operation des Hirntumors noch einige weitere Untersuchungen anstellen müssen.«
    »Wie lange habe ich noch zu leben?« Er wusste, dass selbst jetzt in seinem Gesicht keine Gefühlsregung zu sehen war. Seine Stimme klang so monoton, als fragte er einen unpünktlichen Steuerzahler, wie lange sich die Abgabe der Steuererklärung verzögern würde. Ein Mann der großen Gefühle war er, der Finanzbeamte a. D., nie gewesen. Seine Empfindungen für sich und andere brannten auf Sparflamme. Schon immer. Warum sollte er jetzt Angst vor dem eigenen Tod haben?
    »Das ist schwer zu sagen. Einige Monate. Vielleicht ein Jahr.«
    Er nahm die Prognose des Arztes mit derselben Gleichgültigkeit hin, mit der er andere Schicksalsschläge in seinem Leben zuvor auch hingenommen hatte. Den Tod seiner Eltern etwa, die er selbst dann nie besucht hatte, als beide an Krebs erkrankt und im Abstand von fünf Jahren daran gestorben waren. Oder den Suizid seiner Frau Anna, die sich am ersten Weihnachtsfeiertag erhängt hatte. Ihr ständiges Gejammer, dass sie das Leben nicht mehr ertragen könne, hatte er nie verstanden und irgendwann einfach auf Durchzug geschaltet.
    Nun war eben er an der Reihe zu sterben.
    Na und?, dachte er. Jetzt erwischt es dich halt, und das mickrige Flämmchen deines Lebens erlischt. Aus. Vorbei. Basta.
    Gelegentlich hatte jemand nach den Gründen gefragt, warum seine Gefühle so lau waren. »Keine Ahnung«, hatte er dann geantwortet. »Irgendwas in der Kindheit vielleicht.« Was genau, interessierte ihn im Grunde nicht. Den Rat einer Kollegin, doch mal einen Psychologen aufzusuchen, hatte er freundlich, aber bestimmt abgewiesen. Er hielt nicht viel von den Seelenklempnern, die selbst gewaltig einen an der Klatsche hatten, wie er bei sich dachte.
    »Wenn wir nach der OP direkt mit der Bestrahlung und der Chemotherapie anfangen, kann sich Ihre Lebenserwartung um einige Monate verlängern. Wir haben da gute Erfahrungswerte«, sagte der Arzt und schaute dabei in seine Krankenakte.
    Sigmund Witter
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