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Pandaemonium - Die Letzte Gefahr

Pandaemonium - Die Letzte Gefahr

Titel: Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Autoren: Alexander Odin
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schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Das lassen wir lieber«, erwiderte er kurz und bündig. Dann stand er auf, nahm seinen Hut und ging aus dem Zimmer. Kurz bevor der Fahrstuhl hochfuhr, kam der Arzt noch einmal angelaufen und drückte ihm ein Kärtchen in die Hand: »Melden Sie sich bitte bei Frau Dr. Steller auf Station fünf. Sie wird sie psychologisch betreuen.«
    Er nickte bloß, steckte die Karte in seine Manteltasche und betrat den Fahrstuhl. Die Tür schloss sich. Sein Entschluss stand fest: Er würde das Krankenhaus nie mehr betreten.
    Zwei Monate danach – der Tumor war inzwischen größer geworden und drückte auf irgendeine Stelle in seinem Gehirn – geschah etwas Seltsames. In ihm wuchs eine undefinierbare Empfindung heran, die mit der bösartigen Zellwucherung einherging. Wenn sie auch anfangs noch schwach war und drohte, von den gleichzeitig auftretenden furchtbaren Kopfschmerzen im Keim erstickt zu werden, so wurde sie doch zusehends kraftvoller. Am zehnten Todestag seiner Frau passierte es dann. Als er der Ordnung halber einen Blumenstrauß auf ihr Grab legte – es war immer der gleiche Strauß aus gelben Begonien und roten Astern, die er bei der Gärtnerei am Eingang des Friedhofs kaufte –, wurde er zum ersten Mal in seinem Leben von starken und tiefen Gefühlen überwältigt. Es war vergleichbar mit der Wucht einer Riesenwelle, sodass ihm schwindelig wurde und er auf das Grab stürzte.
    Als er sich auf der kalten Erde mit den Armen aufstützte, waren seine Augen einen Moment lang dicht vor dem kleinen Bild seiner Frau, das in den weißen Marmorgrabstein eingelassen war. Er begann, so laut zu schluchzen, dass andere Friedhofbesucher sich zu ihm hindrehten. Und obwohl er an keinen Gott glaubte, wurde ihm in diesem Moment klar, dass ein Wunder geschehen und der Tumor ein Geschenk des Himmels war.
    Genau diesen Gedanken hatte er auch jetzt wieder, als er aus der S-Bahn zu einer Bank auf dem Bahnsteig taumelte. Erschöpft ließ er sich auf einen der Sitze fallen, atmete tief ein und schloss die Augen, um sich zu sammeln. Auch wenn es immer noch ungewohnt war: Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er Glück, wenn er von diesen Gefühlen übermannt wurde.
    Trotz seiner scheinbaren Gleichgültigkeit hatte er sich über den Krebs informiert, nachdem er von der Diagnose erfahren hatte. Er kannte die Berichte über Verhaltensveränderungen, die mit dem Wachsen von Hirntumoren einhergingen: »emotionale Labilität, ungerechtfertigte Fröhlichkeit und Euphorie im Wechsel zu leichter Reizbarkeit und kurz andauernden Ausbrüchen von Wut und Aggression« – so oder ähnlich lauteten die Beschreibungen in einschlägigen Publikationen.
    Scheiß drauf!, dachte er sich. Wenn der Tumor dieses Hochgefühl auslöst, warum hast du ihn, verdammt noch mal, nicht schon früher bekommen?
    Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, stieg er wieder in die S-Bahn, um sich einen weiteren Gefühlsschuss zu setzen. Er konnte nicht genug davon bekommen und fuhr mit seinem Tagesticket stundenlang das Streckennetz ab.
    Als um sechzehn Uhr die Rushhour begann und immer mehr Menschen auf dem Weg nach Hause in die S-Bahn drängten, gab sich Sigmund Witter die volle Dosis. Keine Minute dachte er mehr an seine Erkrankung und den ärztlichen Ratschlag, dass er sich schonen sollte. Jetzt war er voll im Rausch. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er von seinem Sitz aus, wie sich die Wolken zu einem psychedelischen Potpourri vermischten: bunte, grelle Formen, die sich ständig veränderten und ineinanderflossen, die Blasen und Tropfen bildeten, um sich dann wieder in einem Farbstrudel aufzulösen. Stimmengewirr, Handyklingeln und die Musik aus Kopfhörern verwandelten sich zu einer Melodie, und er selbst wurde zu einem Resonanzkörper. Er hatte das Gefühl, mit allem zu verschmelzen und eins zu sein. Die Wolken flossen in ihn hinein und strömten in bunten Schlangenlinien wieder aus seinem Kopf hinaus.
    Sigmund Witter durchzog ein Gefühl der Wärme, der Geborgenheit und des Glücklichseins.
    Doch als sich am Hackeschen Markt die Türen öffneten und ein weiterer Pulk Menschen in die S-Bahn strömte, änderte sich das schlagartig. Sigmund Witter nahm die Person mit dem schwarzen Mantel und der Aktentasche, die an ihm vorbeilief und zwischen den anderen Fahrgästen im hinteren Teil des Wagens verschwand, nur aus den Augenwinkeln wahr. Aber er spürte sofort die Gefahr, die von ihr ausging. Innerhalb von Sekunden breitete sich eine
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