Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
beachtete kaum die sich über den Boden verstreuenden Bilder. Deren Geheimnisse erschienen ihr nun nicht mehr wichtig. Sie ahnte, etwas Schreckliches musste geschehen sein.
    Es war ein viel zu schöner Frühlingstag, um die Sprache zu verlieren. Pala konnte sich in ihrer gewiss nicht armen Phantasie allerdings auch keinen verregneten Novembermittwoch ausmalen, an dem Nonno Gaspares Unglück für sie nur eine Spur erträglicher gewesen wäre. Und er musste wohl genauso empfinden.
    Der alte Mann stand immer noch vor ihr, mit der Linken den eigenen Hals umfassend, als bekäme er keine Luft, und mit der Rechten unentwegt den Gehstock schüttelnd. Während Pala einigen Hieben auswich, fragte sie sich, was dieses alte Gesicht nur so zum Glühen brachte. Einen Sonnenbrand hatte Gaspare seit mindestens sechzig Jahren nicht mehr gehabt.
    Weil nun schon einige Zeit verstrichen war und sich keine Besserung seines Zustandes abzeichnete, bekam Pala es mit der Angst zu tun. Nonno Gaspare würgte grässliche Laute hervor, als wolle er etwas sagen, jedoch ohne Erfolg.
    Vielleicht hat er ja etwas verschluckt, schoss es ihr durch den Kopf. Einen Hühnerknochen! Gaspare lebte praktisch von Hühnerfleisch. So, wie er sich gebärdete, musste ihm schon eine ganze Keule im Halse stecken. Dem Aussehen nach zu urteilen, hatte er ungefähr noch eine Minute zu leben.
    »Was ist denn nur mit dir?«, schrie Pala. Sie weinte vor Angst.
    Gaspares rotes Gesicht stierte das Mädchen nur verständnislos an, seine Hände waren jetzt zu einer hilflosen Geste ausgebreitet. Den Prügel hatte er fallen lassen.
    »Hast du wieder dein Hähnchen zu schnell hinuntergeschlungen und dich verschluckt?«
    Ein Schulterzucken war alles, was Nonno Gaspare zu Wege brachte, abgesehen von dem Mitleid erregenden Würgen und Krächzen.
    Palas Gedanken arbeiteten wie das Mundwerk eines silencianischen Marktschreiers. Wie nur konnte sie ihrem Freund helfen? Wenn ihre kleine Schwester einen Bonbon verschluckte, dann nahm der Vater sie einfach an den Füßen und schüttelte sie kopfunter ordentlich durch, bis der süße Pfropf aus Ninas Rachen sprang. Das klappte immer. Doch wie sollte Pala dergleichen mit dem hageren Großvater anstellen, der sogar zu groß war, um aufrecht durch seine Haustür zu passen?
    In ihrer Not lief sie um ihn herum und klopfte ihm mit der flachen Hand heftig auf den Rücken. Bei Nina hatte sie diese Methode schon erfolgreich angewandt.
    Nonno Gaspare strampelte fast wie Palas kleine Schwester und ebenso wie diese protestierte er in gänzlich unverständlichen Lauten. Er schüttelte den Kopf und gebärdete sich, als schlüge ihn Pala mit einer Rute. Schon erlahmten ihre Kräfte, obwohl der Alte immer noch kein Hühnerbein ausgespuckt hatte.
    Wenigstens lebte er noch. Mit Leib und Seele ein richtiger Geschichtenerzähler, hatte er seine vielfältigen Erfahrungen stets in schillernden Farben zu beschreiben gewusst. Allerdings konnte sich Pala nicht erinnern, ihn jemals von seinen Fähigkeiten im Luftanhalten prahlen gehört zu haben. Selbst ein tüchtiger Perlentaucher hätte inzwischen umkippen müssen. Aber der Alte stand aufrecht wie eine Pappel, in deren Krone sich ein roter Luftballon verfangen hatte. Gaspare würde wohl doch nicht so schnell sterben wie ursprünglich befürchtet.
    Langsam beruhigte sich Pala. Sie musste nachdenken. Mit einer seltsam schiefen Grimasse musterte sie das leuchtende Gesicht ihres Freundes. Wenigstens war der blanke Schrecken daraus gewichen. Dafür spiegelte sich in seinen wasserblauen Augen jetzt eine Verzweiflung von solcher Tiefe, wie Pala sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Dicke Tränen rollten über ihre Wangen, aber sie bemerkte es nicht. »Warum nur kann er nicht sprechen?«, murmelte sie. »Warum nur…!«
    Nonno Gaspare schien nicht einmal zu verstehen, was sie zu ihm sagte. Taub konnte er nicht sein, denn er reagierte ja auf ihre Stimme, wenngleich nur mit ratlosen Blicken und Gesten. Pala bückte sich nach seinem Krückstock, hob ihn auf und führte ihren Freund zu der Bank zurück, die vor dem Haus stand. Die Bilder ihrer frühen Kindheitstage blieben am Boden liegen. Ab und zu drehte der Wind neugierig das eine oder andere um.
    Pala setzte sich neben den Alten. Dort auf der Bank, im Schatten des mächtigen Lorbeerbaumes, ließ es sich besser nachdenken. Während sie im Kopf unzählige Fragen wälzte, blickte der Geschichtenerzähler mit finsterer Miene zum Schlossberg hinauf. Die Blätter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher